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Der unsichtbare Dritte

Vergeßt die Royals – Paul Gallagher, ältester der notorischen Rockbrüder von Oasis, erzählt aus dem Nähkästchen! Wie hart die Jugend war und wie es trotzdem zur erfolgreichsten Rock-'n'-Roll-Band der britischen Postmoderne kam  ■ Von Jörg Heiser

Brüder, die Bodyguards haben, die sie voreinander schützen sollen – das hat die Welt seit Kain und Abel nicht gesehen. Mit dem Bruderzwist zwischen Oasis-Gitarrist Noel Gallagher und Sänger Liam Gallagher hat dieses Jahr nicht nur die englische Tagespresse eine würdige Abwechslung für die Charles-, Di- und Fergie-Dauerthemen aus dem Königshaus gefunden, es ist auch deutlich geworden, daß die alten Rock-'n'-Roll- Mythen erstaunlich revitalisierbar sind: Oder hätte jemand noch mal damit gerechnet, daß Dagmar Berghoff (wie Mitte November geschehen) in der Tagesschau davon berichten würde, daß Liam Gallagher wegen Drogenbesitzes festgenommen worden ist? Oder daß das US-Nachrichtenmagazin Time auf dem Titelblatt bange fragt, ob sich Oasis auflösen?

Mittlerweile bemüht sich die Plattenfirma, die Gallagher-Streithähne aus den Klatschspalten zu halten, und hat alle öffentlichen Termine abgesagt – nachdem sie zuletzt aus den Londoner Abbey Road Studios geflogen waren, weil sie es sich bei den Aufnahmesessions zum dritten Album mit der gesamten Studiobelegschaft verscherzt hatten.

Wäre alles nicht weiter der Rede wert, würde sich dieses operettenhafte Bruder-Drama nicht mit wenigstens einem halben Dutzend Songs verbünden, die dazu geführt haben, daß allein in Großbritannien 3,5 Millionen „What's The Story (Morning Glory)“-Alben verkauft wurden, jeder zweite irische Haushalt eine Oasis-Platte besitzt und selbst erklärten Gallagher-Gegnern ein Song wie „Wonderwall“ in die musikalische Libido rutscht.

Eher Psycho-Kleinkrieg als große Popgeste

Wer wissen will, wie es so weit kommen konnte, wird mit einem neuen Buch konfrontiert, das die Geschichte der Gebrüder Gallagher von frühester Kindheit an erzählt, und zwar geschrieben vom dritten Bruder Paul, mit 30 Jahren der älteste.

Schon vor Erscheinen von „Brothers: From Childhood To Oasis, The Real Story“ war im Prinzip deutlich, daß der exzessive Bruderzwist samt Schlägereien und endlosen Trennungs- und Versöhnungsorgien weder kaltschnäuzig durchgezogene Medienstrategie eines Popunternehmens war noch einfach „echte“ Familienrealität: dazu taumelte er zeitweise zu besinnungslos zwischen klassischem Hype und Kontraproduktivität. Etwa wenn Oasis die MTV- Unplugged-Session mit Noel als Sänger bestreiten, weil Liam angeblich heiser sei, nur um ihn dann als pöbelnden Zuschauer im Publikum zu haben: die stumme Kraftprobe zwischen Liam, dem charismatischen Sänger („Du wirst ja sehen, wie weit du ohne mich kommst ...“) und Noel, dem wesentlich uncharismatischeren Songschreiber („Glaub' ja nicht, daß du unersetzlich bist ...“): zwischen Lust und Leistung. Eine Kraftprobe, die auf Publikum angewiesen ist, die aber trotzdem mehr mit Psycho-Kleinkrieg als mit großer Popgeste zu tun hat.

Paul Gallagher erzählt, dem Musikjournalisten und Fernsehmoderatoren Terry Christian aufs Interview-Band gesprochen oder in Rohmanuskripten vorgelegt, den familiären Hintergrund zum Bruderdrama, in dem er selbst den bislang unsichtbaren dritten Part spielte: Kinder irischer Einwanderer in der Arbeiter-Vorstadtsiedlung Manchesters, die Mutter gutmütig und um eine gute Ausbildung ihrer Söhne bemüht, der Vater ein egoistischer, kaltherziger Tyrann, der besser für die Kinder seiner Freundin sorgt als für seine eigenen, seine Söhne auf seinen Baustellen Fron arbeiten läßt und sie ansonsten regelmäßig verprügelt. Als Liam zwölf ist, ziehen Mutter und die drei Söhne aus dem Reihenhaus des Vaters in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus und fangen von vorne an.

„Today is gonna be the day that they're gonna throw it back to you“, singt Liam Gallagher mit Nachdruck die ersten Zeile der Ballade „Wonderwall“: „Heute kriegst du's zurückgezahlt“ – als müßte dem Vater Jahre später noch einmal der Triumph dieses Augenblicks durch die Popcharts nachgeschickt werden. Der Rest des Textes ist – „you're gonna be the one that saves me“ – einer mütterlichen Rettung gewidmet, sei es der durch Noels Freundin Meg oder aber – wie Paul im Buch meint – durch Mutter Peggy.

Ein erstaunlicher Gegensatz zur klassischen Outlaw-Phantasie der Rockgeschichte, in der die männliche Rebellenidentität sich eben gerade immer gegen das mütterliche Zuhause definiert. Songschreiber und Texter Noel Gallagher entspricht dann genau wieder diesem Klischee, wenn er seinem Bruder Paul gegenüber leugnet, daß „Wonderwall“ sich auf seine Mutter bezieht, ihr aber statt dessen live „Don't Look Back in Anger“ widmet, wo es heißt: „Stand up by the fireplace, take that look off your face“ – „Stell dich neben den Kamin, guck nicht so“, und dann fotografiert Mama den kleinen Noel fürs Familienalbum, aber der singt dann 20 Jahre und einen Vers später ein trotzig-rebellisches „You ain't never gonna burn my heart out“.

Eine der Hauptvorzüge des Buches ist, daß klarer wird, warum Noel Gallaghers Songs so auf der Kippe stehen zwischen popuniverseller Wunschbeschreibung und einfach nur noch blöde saturiertem Zynismus. „So I start a revolution from my bed, 'cos you said the brains I had went to my head“, singt Noel (und ausnahmsweise nicht Liam) Gallagher in „Don't Look Back in Anger“, und man stellt sich einen 29jährigen Popstar vor, der auf dem Bett liegt und größenwahnsinnig wird. Im Buch dagegen kommt ein zehnjähriger Noel vor, den der Vater ins Bett geschickt hat, obwohl die Sommersonne noch ins Kinderzimmer scheint und er die Nachbarskinder auf der Straße spielen hören kann. Und der, als er schon Popstar ist, auf einem Bootleg die John-Lennon-Zeile mit der „Revolution vom Bett aus“ finden wird.

Und die Scheibe dreht sich forever

Ist es schon eine mehr als nur brisante Konstellation, daß der jüngere Bruder (Liam) die Songtexte des älteren Bruders (Noel) zu singen hat, wird der Älteste (Paul) beim Schreiben über die zwei anderen endgültig zur tragikomischen Figur. Korpulent, fingernägelkauend, früher arbeitslos und nun als „Talentscout“ in Lohn und Gnadenbrot der Plattenfirma seiner beiden erfolgreichen Brüder, erzählt er sentimental, detailversessen bis geschwätzig, stellenweise witzig, manchmal selbstmitleidig: und ist auf über 200 Seiten auf durchaus würdevolle Art damit beschäftigt, seine tiefsitzenden Neidgefühle in Bewunderung zu sublimieren. Wo Noel auf Pauls Gitarre die ersten Akkorde übte und Liam Mamas Liebling war, reflektiert Paul immer schon mit, daß er der Loser ist: und ist dann doch auch schon wieder in der Lage, von Noels Songs zu schwärmen oder einen väterlich-wohlwollenden Blick auf Liams spinnerte Gereiztheit zu werfen. Immer spricht er dabei von „our Liam“ und „our Noel“ – das „Wir“, mit dem die öffentliche Pop-Persona wieder in den irisch-matriarchalen Familienstolz rück-eingemeindet wird. Andere als die familiären Bezugspersonen kommen nur am Rande vor, von anderen Frauen als seiner Mutter oder den Freundinnen der Brüder ist praktisch keine Rede, und zurück bleibt eine Brüder- Gallagher-Platte, bei der die Nadel hängt: „... das war mal wieder ein typischer Gallagher-Brüder-Streit, wo keiner auf das hört, was der andere sagt, und jeder nur immer und immer wieder dasselbe wiederholt.“

Paul Gallagher/ Terry Christian: „Brothers. From Childhood To Oasis – The Real Story“. Virgin Press, London, 14,99 DM

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