: Unter einer Schneewehe in den Westen
Als unfreiwilliger Fluchthelfer schmuggelte Hans-Peter Schwade 1964 eine Frau über den Kontrollpunkt Dreilinden nach West-Berlin. Bis heute läßt ihm diese Geschichte keine Ruhe ■ Aufgeschrieben von Barbara Bollwahn
Als wir in Dortmund losgefahren sind, hatten wir leichtes Schneegestöber. Wir hatten dort Grobbleche geholt. Die Hinfahrt war schon anstrengend und die Rückfahrt erst. Das Schneetreiben wurde immer schlimmer. Es waren richtig dicke Flocken. Man fährt dann wie in einem Sog und kann gar nicht gucken. Und wenn es Nacht wird, sieht auch der Scheinwerfer nicht viel. Auf der Höhe der Bielefelder Berge war ich so richtig am Ende, wo ich gesagt habe, also jetzt schietegal, der nächste Parkplatz ist meiner. Das war so gegen 18 Uhr. Bis zum Kontrollpunkt Helmstedt gab es keine Chance für einen Fernzug, noch irgendwo auf einen Rastplatz zu kommen. Die Schneepflüge kamen kaum nach. Ich dachte, mit dem neuen Kollegen schaffe ich es nicht bis Berlin. Den konnte man gerade mal bei gutem Wetter geradeaus fahren lassen. Ich war ausgepowert und wollte also in Helmstedt Schluß machen. Doch von der Ausfahrt bis zum Kontrollpunkt standen die Lkws schon im Stau. Da war für mich klar, ich finde auch dort nichs. Da ich schon an der Einfahrt nach Helmstedt vorbei war, dachte ich, ich könnte bei Morcheln runterfahren. Doch abbiegen war nicht mehr möglich. Ich rutschte an Morcheln vorbei, und es war klar, jetzt muß ich in die DDR, ob ich will oder nicht.
Es fuhr kein Kollege rüber, so daß die Rampe beim Zoll frei war. Die Abfertigung ging ziemlich schnell. Ich hoffte vielleicht irgendwo in der Magdeburger Börde ein Plätzchen zu finden. Mitnichten. Hundemüde war ich und hing mit dem Kopf fast auf der Scheibe. Dann sah ich zwischen Burg und Magdeburg in meinem Lichtstrahl einen Schatten, den ich im Moment nicht registrieren konnte. Ist es ein Tier, ist es ein Mensch? Was war das? Ich wich dem Schatten aus, kam ins Schleudern. Damals gab es noch keine Leitplanken. Also bin ich in den Mittelstreifen rein, ein Stück in die Gegenfahrbahn, wieder rüber auf meine Fahrbahn. Irgendwie kriegte ich den Zug zum stehen. Mein Kollege war völlig verdattert, der lag in der Koje und rief, was denn los ist. Ich wußte auch nicht, ob ich mit dem Hinterteil die ,Sache‘ auf der Straße erwischt hab.
Ich habe Warnblinker angemacht, Taschenlampe gekrallt und ging zurück und hörte im Schneesturm jemanden heulen. Ich hab' gebrüllt: ,Ist da wer?‘ Es gab eine Antwort, und irgendwo kam ich auf eine völlig aufgelöste junge Frau. Ich dachte, die hätte einen Unfall, aber sie sagte: ,Nein, nein, ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr.‘ Ich fragte sie, was denn los ist. ,Nein, nein, ich will nicht mehr leben, ich kann nicht mehr‘, sagte sie immer wieder und ständig. ,Können Sie mich mit in den Westen nehmen?‘ ,Um Gottes willen‘, hab' ich gesagt, und saukalt war es auch. ,Steigen Sie erst einmal ein. Wir müssen von der Fahrbahn runter.‘ Dann hab ich die mit in den Zug genommen. Mein Kollege war völlig aufgelöst und sagte: ,Mach keine Scheiße, hier im Osten jemanden aufladen.‘ Ich sagte, wir fahren erst einmal runter, wir standen ja nicht sauber abgeparkt auf dem Randstreifen. Vielleicht finden wir einen Parkplatz, und dann mal sehen. Es war aber keiner zu finden.
Die Frau platzte sofort wieder raus, daß sie weg will und daß sie nicht mehr leben will. Sie sei aus einem Stasiauto raus und auf der Flucht. Sie könne nicht mehr zurück. Das sagte sie immer wieder. Auf der Fahrtstrecke bis Lehnin, wo wir endlich einen Parkplatz fanden, erzählte sie, daß sie verlobt ist mit einem Westberliner Polizisten. Dann ist die Mauer gekommen, und die beiden waren getrennt. Sie ist irgendwo in Ost-Berlin Bankangestellte gewesen, hat einen Fluchtversuch gemacht, ist erwischt worden, hat dann ihren Job verloren und ist in irgendeinen Industriebetrieb nach Magdeburg versetzt worden. Den Kontakt zu ihrem Verlobten hat sie aber über eine Scheinadresse beibehalten. Da ist immer Post geflossen, und die Stasi ist dahintergekommen. Die haben die zu irgendeinem Verhör geholt, und dann ist die aus dem Auto irgendwo raus. Ich weiß nicht, wo und wie sie auf die Autobahn kam. Diese Hinterfragerei war ja gar nicht angesagt. Da läuft ja was ganz anderes im Kopf ab.
Auf dem Parkplatz Lehnin erklärt ich, ich könne sie noch bis Ausfahrt Potsdam mitnehmen. Dort fährt auch ein Bus, für Grenzgänger, die im Westen arbeiteten. Sie sagte, daß sie sich dann vors nächste Auto werfen würde. Sie müsse entweder mit nach dem Westen, oder sie nehme sich das Leben. Zurück könne sie nicht mehr. Mein Kollege sagte: ,Peter, mach keine Scheiße!‘ Ich sagte ihm: ,Du, kann ich doch gar nicht. Wie denn. Wo soll ich auf dem Lastzug irgendjemand verstecken. Ich mach' bestimmt einen Haufen Mist und bin auch nicht so risikobereit.‘ Ich sagte ihr also: ,Erzählen Sie mir doch, wie ich das machen soll.‘ Führerhaus, Koje, Werkzeugkiste, Radkasten – überall wird doch an der Grenze nachgeguckt. Aber sie sagte immer das gleiche: ,Ich kann nicht, ich will nicht.‘ Ich sagte ihr, damit sie meinen guten Willen sieht: ,Gucken Sie sich das Auto an, es gibt keine Chance.‘ Mein Kumpel ist drinnen sitzen geblieben. Ich bin mit ihr ausgestiegen und bin um den Lastzug rumgetippelt und habe sie nun gefragt: ,Wohin?‘ In meinem Kopf, der hat sowieso nicht klar denken können, war also nix. Da war Schiß, Schiß und eine gewisse Aufgeregtheit und Druck. Denn die Frau einfach so wegzuschicken, war für mich auch nicht drin.
Auf einmal sehe ich, daß sich auf meinem Anhänger eine richtige Schneewehe gebildet hat. Weil ich die ganze Fahrt vom Rheinland hoch nicht schnell fahren konnte, ist der schwere Schnee liegengeblieben. Durch das langsame Fahren hat er sich hinter der Stirnwand abgelagert. So hatte sich eine richtige Verwehung bis an das erste Paket Bleche gebildet. Das war ein richtig schöner Berg. Da sage ich zu ihr: ,Tja, es gäbe die Möglichkeit der Schneewehe. Du mußt so rein, wie du bist, aber ich kann dir eine Decke geben. Ich bleib' erst einmal im Führerhaus sitzen, ich schlafe solange, bis die Spuren beseitigt sind. Aber mein Kollege darf das nicht wissen. Und raufhelfen tue ich dir auch nicht. Mach, was du willst, ich geh' ins Führerhaus und weiß von nix. Wenn irgendwas knallt, wir haben uns nie gesehen, du bist draufgegangen, während wir geschlafen haben.‘
Ich bin dann in mein Führerhaus. Meinem Kollegen hab ich gesagt: ,Du, die ist mir einfach weggerannt.‘ Dann hab ich Lappen gesucht und das ganze Führerhaus geputzt. Ich bin doch nicht doof. Das kann doch auch von der Stasi eine fingierte Geschichte gewesen sein. Damals war es ja noch so, daß man im Osten nicht anhalten durfte. Meinem Kollegen konnte ich es nicht sagen. Der hat sofort angefangen zu jammern, als wir sie nur mitgenommen haben, daß er fünf Kiner zu Hause hat und er der einzige Ernährer ist. Seine Frau hat gerade einen Waschsalon in Charlottenburg eröffnet, und sie haben Schulden und was weiß ich nicht alles. Wir standen anderthalb bis zwei Stunden. Dann habe ich ihm gesagt: ,Ich geh mal raus pullern, schmeiß du mal die Maschine an, ich guck nach, ob alle Lampen brennen.‘ Ich habe dann geguckt, wie das hinten aussieht. Das war so zugeschneit, besser ging's gar nicht.
Auf dem Weg zum Kontrollpunkt Dreilinden hat uns kein Lastzug, kein Pkw überholt. Totale Funkstille. Das war so gegen zweie frühmorgens. Am Kontrollpunkt gibt's ja diese lange Rampe, gleich wenn man da ranfährt, und vorne das Häuschen, wo die Volkspolizei drinsaß, wo wir unsere Warenbegleitscheine zum Abfertigen gaben. Ich bin bis ans Ende der Rampe gefahren, in der Hoffnung, daß der bei dem Dreckwetter wegen einem Warenbegleitschein gar nicht rauskommt. Ich krabbel durchs Führerhaus, geh' auf die Rampe rauf und laufe zurück. Wie ich mich so umdrehe, rutscht ein Stückchen von der Schneewehe weg und von einem Fuß liegt der Stiefel frei. So. Da war für mich 15 Jahre Knast in der DDR klar und auch für den Kollegen mit seinen fünf Kindern.
Was mache ich jetzt? Ich hab' gezittert, ich hab' gebibbert. Nur wegen meiner Schauspielausbildung konnte ich mich allmählich in die Reihe kriegen. Dadurch entsteht irgendwie Mut. Das ist einfach so. Ich bin dann ganz locker vor das Häuschen gegangen. Der hat sein Schiebefensterchen aufgemacht. Ich sag: ,Meister, nur einen Warenbegleitschein und ein Mistwetter.‘ Sagt der: ,Hab ich gemerkt, kommt keiner. Aber wieso kommt ihr denn?‘ ,Na, ich hab' keinen Parkplatz gefunden. Sonst hätte ich auch gepennt.‘ Sagt er: ,So einen Schnee, wie wir dieses Jahr haben, hatten wir schon lange nicht. Aber, ich komm' trotzdem raus. Das muß alles seine Ordnung haben.‘ Ach, nun hab ich wieder gezittert. Wenn der rauskommt, sieht der genauso gut wie ich den blöden Stiefel. Was mach' ich jetzt?
Zu der Zeit gab es in den Westzeitungen kein Ostfernsehprogramm. Und die DDR hatte dort, wo die Fernfahrer abgefertigt wurden, Zeitungsständer aufgestellt mit kostenlosen Programmzeitschriften. Ich hab schon damals immer die ,Rumpelkammer‘ sehr gerne geguckt und mir immer die Zeitung mitgenommen. Also hab' ich erst mal gegriffen, was abzugreifen war. Beim Durchblättern merkte ich, daß die Zeitungen von letzter Woche waren. Als der Polizist die Papiere durchreicht und sagt: ,Ich komme gleich raus. Warten Sie‘, antworte ich: ,Was ist denn hier los, ihr habt ja alles alte Zeitungen. Wo sind denn die neuen?‘ ,Muß ich nachgucken‘, meint der, ,wenn nicht, kriegen Sie meine.‘ Er kommt also raus, und ich jammer' dem was vor wegen der alten Zeitung, daß der gar nicht mehr auf die Ladefläche guckt. Und während des Jammerns umkreisen wir den Zug so, daß der Stiefel auf der anderen Seite rausschaut.
Dann bin ich die Rampe runtergesprungen, vorm Auto rüber, habe die Fahrertür aufgerissen und ihn gefragt, ob er auch im Radkasten gucken will. ,Aber selbstverständlich‘, sagt er. Jetzt hatte ich Angst, daß der, wenn er gerade läuft, in Kopfhöhe am Schuh vorbeistreicht. Wie kriege ich seinen Blick weg? Also bin ich an die Klappe da unten gegangen. Mir ging alles durch und durch. Da macht er die Fahrertür auf und springt runter. ,Bleiben Sie mal gleich hier unten, die Klappe ist offen‘, ruf ich. Da kam er hinterher, hielt seine Mütze fest und guckte mit der Taschenlampe rein, lief an dem Zug entlanglang, kletterte am Ende der Rampe eine Leiter rauf; und weg war er. Ich mußte nun hinterher, mein Zettelchen holen, kriegte von ihm die Zeitung und ein ,Gute Fahrt‘. Jetzt hoffte ich nur noch, daß nicht irgendein Dödel auf der anderen Seite steht und den Stiefel sieht. Es ist ja nichts unmöglich. War aber nicht. Der andere drückte auf die Schranke und ich fuhr ab in den Westen.
Dort habe ich meine Abfertigung gemacht, ohne denen was zu erzählen. Mir war völlig klar, daß der Osten doch nicht blöde ist. Die haben irgendwo Informanten sitzen. Und wenn ich das erst unserem Zoll und unserer Polizei erzähle und anschließend den Amerikanern, ist ganz schnell die Presse da. Ich hatte ein Kind von drei Jahren, war gerade verheiratet. Außerdem hab ich Verwandte im Osten, die hätten mich ja nie mehr durch die Zone fahren lassen. Also hab ich nichts gesagt.
Bei der Ausfahrt Nikolassee, gibt es keine Haltemöglichkeit, aber man kann in der Ausfahrt einen Schlenker machen, wenn keiner kommt. Da habe ich zu meinem Kollegen gesagt: ,Komm, wir müssen das Mädel von der Ladefläche holen.‘ ,Hast du eine Macke‘, schrie der, und wieso auf der Ladefläche. Ich sag' ihm: ,Du, das ist verschneit, da ist die drinne – wenn sie noch drin ist.‘ Hätte ja sein können, daß die zwischenzeitlich getürmt ist. ,Was, du Idiot, du Arsch‘, brüllte mein Kollege. ,Ich hab' fünf Kinder. Das kann doch nicht wahr sein.‘ Er springt drüben raus, ich auf der Fahrerseite und wir beide: ,Hallo, hallo‘, bis was piepste. ,Wir sind im Westen‘, schrie ich. Dann bröckelte der Schnee, und die kam raus, völlig steifgefroren. Wir rubbelten sie erst mal lange mit Schnee ab und dann rin in das Führerhaus.
Dann ist das passiert, was mir jetzt schon wieder passiert. Wir haben erst mal alle feste geheult. Wir steuerten eine Raststätte an, um Grog zu trinken. Sie erzählte, wo ihr Verlobter wohnt und ob wir ihr Geld geben können für 'ne Taxe. Aber wir haben sie gefahren. Außerdem hatte ich Schiß, daß die das Nummernschild beguckt. Jetzt kam bei mir die Angst hoch. Dann sind wir in die Monumentenstraße in Schöneberg gefahren. Ich hab schon oben auf der Monumentenbrücke gehalten, damit die bloß nicht auf das Nummernschild gucken kann. Wir haben bei dem Verlobten geklingelt, und der öffnete im Schlafanzug, es war ja zu nachtschlafender Zeit. Der war völlig verdattert, daß er seine Verlobte vor die Tür gesetzt bekam. Er konnte es gar nicht fassen.
Was wir gequatscht haben, weiß ich nicht mehr. Der war erfreut, sie war erfreut, die heulten und hingen sich um die Ohren. Ich weiß nicht, ob wir noch was getrunken haben. Er hat uns jedenfalls 300 Mark gegeben, worüber wir uns natürlich gefreut haben. Unten habe ich gehofft, daß er nicht aus dem Fenster guckt. Ich hatte das Standlicht brennen lassen, und das Schild mit dem Aufdruck ,Spedition Wagner‘ war gut zu sehen. Aber der wird nicht geguckt haben. Wir sind mit furchtbar gemischten Gefühlen losgefahren. Aber es ist nichts passiert.
Ein gutes Jahr später gehe ich zu ,Quelle‘ in der Wilmersdorfer Straße und fahre die Rolltreppe rauf, und da kommen die beiden mir entgegen. Ein kurzer Plausch, aber ich wollte nicht, daß irgendwas namentlich rauskommt. Dann haben die mir nur mitgeteilt, daß sie geheiratet haben, sie wieder eine Anstellung bei einer Bank hat und daß sie irgendwo nach Frohnau oder Friedenau rausgezogen sind. Seitdem haben wir nie wieder voneinander gehört.“
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