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Die Wanderratte

Begleitumstände einer Schädlingsbekämpfung  ■ Von Gabriele Goettle

Eines Vormittags klingelte es bei Frau M. Vor der Haustür stand die Nachbarin Frau B. in Begleitung einer jungen Frau, die sie, verlegen lächelnd, als „Dame vom Gesundheitsamt“ vorstellte. Die junge Frau, beamtete Kammerjägerin, erläuterte ohne Umschweife den Sachverhalt: „Frau B. hat uns gemeldet, daß sich in Ihrem Komposthaufen eine Ratte eingenistet hat, und nun bräuchte ich ihre Genehmigung für die Ausbringung des Giftköders.“

Eventuelle Bedenken räumte sie sogleich aus, indem sie hinzufügte: „Der Köder wird so ausgelegt, daß nur die Ratte ihn erreicht, Haustiere, aber auch Igel beispielsweise, sind also nicht gefährdet. Allerdings können Sie den Komposthaufen während dieser Zeit nicht benutzen.“ Die Nachbarin, die stets ein freundlich gehetztes Lächeln zeigte, sagte mit vor Abscheu bebender Stimme: „Es ekelt mich richtiggehend... Mehrfach habe ich die Ratte hinten an Ihrem Komposthaufen durch den Zaun kriechen sehen, sie lief dann in unserem Garten herum, und einmal versuchte sie sogar, ins Haus einzudringen, ich konnte es im letzten Moment verhindern. Man muß das Übel gleich an der Wurzel packen, sonst haben wir plötzlich hier alles voller Ratten!“ Die Kammerjägerin beschwichtigte: „So schnell geht das nun auch wieder nicht. Also, es handelt sich Ihrer Beschreibung nach hier um eine Wanderratte. Sie hält sich in der Regel am liebsten draußen auf oder natürlich in Feuchträumen wie Kanalisationen oder Güllegruben. Aber das spielt an sich hier keine Rolle, denn das Bundesseuchengesetz schreibt eine Schädlingsbekämpfung in jedem Fall vor, weil die Wanderratte natürlich ein Überträger von Krankheitskeimen ist, von den Salmonellen über die Maul- und Klauenseuche bis zur Weilschen Krankheit ...“ Die Nachbarin rief entsetzt aus: „Da ist man ja akut gefährdet!“ Es schien so, als würde sie überzeugt davon sein, daß bereits ganze Heerscharen von Ratten im Hinterhalt lauern, jederzeit im Stande, den liebevoll angelegten Garten samt Feuchtbiotop zu überrennen, die Villa zu stürmen, Wohlstand und Gesundheit zu untergraben. So schritt man dann unverzüglich ans Werk. Die Kammerjägerin befestigte rund um den Komposthaufen Plastikbänder zur Absperrung und Warnung vor dem Rattengift. Dieses lag versteckt in einem kleinen flachen Kästchen hinter einem erstaunlich engen Einschlupfloch.

Da es in den darauffolgenden Tagen schneite, waren die Spuren des Tieres gut zu erkennen. Es hinterließ neben den Eindrücken der Pfoten auch eine Schleifspur, die immer wieder abbrach und offensichtlich vom Schwanz verursacht wurde. Kreuz und quer zogen sich diese Abdrücke durch den Schnee, bis hin zum Zaun des Nachbargrundstückes und zurück auf den Komposthaufen, wo die Erde neben ihrem Eingangsloch ein wenig aufgewühlt war. Zum Kästchen hin aber führte keine Spur, ringsum blieb der Schnee fast eine Woche lang unberührt, und dann setzte Tauwetter der Beobachtung ein Ende. Irgendwann war die Kammerjägerin gekommen, hatte das Kästchen offenbar leer vorgefunden und die Maßnahmen wieder abgebaut.

Eigentlich wäre die Geschichte hier zu Ende gewesen. Man hätte sie stillschweigend hinnehmen können, aber eine zufällige Verkettung verschiedener Ereignisse führte zu einer merkwürdigen Fortsetzung. Frau T., Nachbarin von Frau B. zur linken Grundstücksseite hin, lebt allein im ersten Stockwerk eines alten, mit Weinreben umrankten Hauses. Sie erzählt die Geschichte weiter:

„Es war so, daß ich vom Besuch bei meiner Schwester zurückkehrte, und da kam mir Pauli am Gartenzaun bereits entgegen. Ich wunderte mich, wie abgemagert er war nach so kurzer Zeit. Ganz dünn war er. Das zum ersten. Am nächsten Tag fiel mir dann auf, daß seine Haare ausfielen. Und von dem jungen Ehepaar, daß jetzt – seit Elke auszog – unten im Souterrain wohnt, von ihnen also erfuhr ich dann, daß Pauli eine Ratte gefressen hatte, mitten auf der Wiese, und nur der Schwanz übriggeblieben war. Ich habe mich zwar etwas gewundert, aber nicht weiter darüber nachgedacht. Als nächstes fiel mir auf, daß Pauli nichts mehr fressen wollte, das Fleisch blieb liegen, nicht mal trinken mochte er. Nun habe ich mir natürlich ernsthafte Sorgen gemacht, habe ihn gefüttert mit leichter Kost, mit Fisch, Eigelb und solchen Dingen, alles in Minimengen verabreicht, aber das half wenig. Also bin ich mit ihm zum Tierarzt gegangen. Der sagte, er müsse vor allem trinken, wegen der Nieren. Da er aber nichts trinken wollte oder konnte, bekam er Infusionen. Das passierte dann jeden zweiten Tag, ohne daß sich sein Zustand gebessert hätte. Natürlich hatte ich dem Tierarzt gleich vom Verschlingen der Ratte erzählt – denn ich war ziemlich sicher, daß es davon kam –, er hat in seinem Buch nachgelesen, konnte aber zu keiner klaren Diagnose gelangen. Dann bekam Pauli plötzlich so eine Art Lähmung in den Hinterbeinen, er wurde immer müder und schwächer. Morgens konnte er nicht mehr raufkommen zu mir, ich bin immer runtergegangen und habe ihn mit dem Löffelchen gefüttert, ihm versucht, Essen und Flüssigkeit einzugeben, aber er nahm nur ganz wenig, es war furchtbar, so mit ansehen zu müssen, wie das arme Tier leidet. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich beim Tierarzt mit ihm war – und das war ja für ihn auch eine Tortur –, und es wurde einfach nicht besser, trotz der Medikamente.

Pauli schleppte sich eigentlich nur noch so dahin. Zwischendurch kam übrigens auch mal die Nachbarin rüber und hat mir sogar geholfen, dem Pauli ein Medikament einzuflößen, dabei mag sie Katzen gar nicht. Besonders ihr Mann ist sehr gegen Katzen. Da kam auch die Sprache auf das ausgelegte Rattengift, aber sie sagte kategorisch, daß diese Ratte schon längst tot sei, und die vom Amt hätten ja deshalb alles entfernt, es könne also nicht ein und dieselbe Ratte gewesen sein. Ich hingegen war und bin der Meinung, daß es doch dieselbe Ratte war. Denn so eine Ratte, die ist ja schnell und kräftig, die läßt sich doch nicht einfach fangen und totbeißen von einem relativ zarten Kater, außer sie ist ganz schwach und krank ...

Ich hatte damals sogar beim Gesundheitsamt angerufen und mir den Namen des Giftes sagen lassen, denn der Tierarzt wollte ja wissen, was in dem Köder drin war. Er hat dann – warum so spät, weiß ich eigentlich auch nicht – eine Blutuntersuchung gemacht, und die Werte waren dermaßen negativ, daß klar war, der Pauli schafft es nicht, er muß eingeschläfert werden, damit er sich nicht so zu Tode quält. Ja, und das wurde dann auch gemacht...

Ach, es war furchtbar! Der Tierarzt kam ins Haus. Ich hatte draußen im Garten eine Grube gegraben..., und dann habe ich Abschied genommen. Pauli war ja irgendwie fast wie mein eigenes Kind... Die Situation war einfach schrecklich... Und dazu kam – das muß ich vielleicht dazwischenschieben –, daß ich ohnehin in einem labilen psychischen Zustand war, ich hatte große Schwierigkeiten... mit Erinnerungen an meine Eltern. Es gab da diese Briefe, Briefe von meiner Mutter an mich, Briefe von meinem Vater an mich, und in beiden spiegelte sich eigentlich das ganze Unglück der Eltern wieder. Die beiden haben nämlich eine ganz unglückliche Ehe geführt – sie haben mir das natürlich nicht in direkter Weise mitgeteilt –, aber ich wußte es ja, und durch die Zeilen hindurch habe ich es gefühlt. Vielleicht paßten die beiden ja von Anfang an nicht zueinander. Sie war eine freisinnige, musische Frau, hatte Musik studiert, und er war Jurist, eher trocken, will ich mal sagen... aber vielleicht waren es ja auch die dauernden Depressionen meines Vaters... beziehungsweise deren Ursache. Denn er war im Prinzip arbeitslos, durch das lebenslängliche Berufsverbot, das man ihm auferlegt hatte. Er war ja Richter, sogenannter Nazirichter, in einer Kleinstadt im Vogtland an einem Zivilgericht. Ja, und nach '45 ist er dann verhaftet worden wie alle Nazirichter. Ich weiß noch, sie kamen abends, ein russischer Offizier und eine Dolmetscherin. Vater solle zum Bürgermeister kommen, hieß es. Mutter wollte – wir saßen gerade beim Abendbrot – ihm ein paar Stullen machen, aber sie sagten: „Nein, ist nicht nötig, er ist bald wieder zurück.“ Wir warteten mit Mutter bis lange nach Mitternacht. Es dauerte Wochen bis er zurückkam. Er als einziger! Die anderen sind alle hingerichtet worden. Ihn ließ man frei, erteilte ihm aber lebenslängliches Berufsverbot. Von Stund an war er depressiv. Ach ja, freigelassen hat man ihn deshalb, weil er 1944 zwei Jüdinnen bei uns im Haus versteckt hatte. Es waren die Mutter und die Schwester eines Juristen, mit dem mein Vater befreundet war. In Leipzig drohte ihnen die Deportation in eines der Vernichtungslager. Mein Bruder glaubt zwar, meine Mutter habe nicht gewußt, daß die beiden Frauen Jüdinnen waren, aber ich bin ziemlich sicher, sie hat es geuwßt. Und es wäre für sie auch überhaupt kein Problem gewesen, denn ihr Vater war ja ein Professor für Theologie und Religionspsychologie an der Universität Berlin ehemals, und es wurde viel über und mit Juden gesprochen, auch im Familienkreis meiner Mutter. Da gab es überhaupt keine Vorbehalte. Wie auch immer, ich war damals sieben Jahre alt und kann deshalb heute nur vermuten, daß sie es wußte. Der Freund meines Vaters jedenfalls hatte den ganzen Sachverhalt damals zu Protokoll gegeben... Moment..., hier habe ich eine Kopie seines Schreibens:

Dr. jur. et rer. pol. H... B...Rechtsanwalt

Geschäftsz.: tägl. 8–18 Uhr

Mittw. u. Sonnab. 8–13 Uhr

Sprechzeit: tägl. nachm. 3–5 Uhr

außer Mittw. u. Sonnabend

Leipzig C 1, Markgrafenstr. 10

(bisher Neumarkt 5) Dr. B./Ko.

Fernsprecher: 63 186

18. Sept. 45

Bescheinigung:

Herr Amtsgerichtsrat Dr. M... T... aus R... i.V. ist mir seit vielen Jahren bekannt. Wir sind schon vor 16 Jahren gemeinsam Mitglieder des Bezirksverbandes Leipzig im Landesverband sächs. Referendare und Assessoren gewesen. Ich war später daselbst 1. Vorsitzender, während Herr Dr. T... der 2. Vorsitzende war.

Wir hatten in der Zeit unserer gemeinsamen Tätigkeit die Möglichkeit gemeinsamen Gedankenaustauschs gehabt, und ich habe schon damals festgestellt, daß Dr. T... durchaus auf dem Boden demokratischer Staatsauffassung stand. Auch nach der Machtergreifung der NSDAP hat Dr. T..., dem wohlbekannt war, daß ich Halbjude war, in keiner Weise die Beziehungen zu mir abgebrochen, sondern im Gegenteil sowohl mich als auch meine Mutter, die Volljüdin ist, aufgesucht und sogar in dankenswerter Weise 1944 in seinem Hause mehrere Wochen aufgenommen. Herr Dr. T... hat damit, wie wohl ohne weiteres klar sein dürfte, seine Existenz aufs Spiel gesetzt, weil er, wenn es bekannt geworden wäre, daß er als Richter eine Volljüdin in seinem Haus beherberge, ohne weiteres aus dem Amt gewiesen worden wäre.

Auch sonst ist mir bekannt, daß er antifaschistisch eingestellt ist und überzeugt war, daß die Tätigkeit der NSDAP Deutschland über kurz oder lang ins Verderben führen würde.

Daß er schließlich dem Druck, der auf ihn als einen der wenigen Richter in einer Kleinstadt ausgeübt wurde, nachgeben mußte, habe ich durchaus verstanden, zumal es ihm gelungen ist, den Eintritt in die NSDAP bis 1940 hinauszuzögern.

H... B...

Syndikus

der Interessengemeinschaft/

ehem. rass. Verfolgter

Die beiden Frauen haben überlebt. Die Mutter starb aber bald, 1946. Von meinem Bruder jedenfalls weiß ich, daß die Tochter noch lange lebte. 1965, als meine Mutter starb, hatte mein Bruder eine Traueranzeige aufgegeben in Leipzig, und daraufhin hat sie konduliert. Mein Bruder besuchte sie dann einige Zeit später und fand sie wohl in ganz armseligen Verhältnissen vor. Sie bekam auch keine Rente für Verfolgte des Naziregimes – laut meinem Bruder deshalb nicht, weil sie sich bei Nazis versteckt gehalten hatte, also bei uns. Ist das nicht eine himmelschreiende Ungerechtigkeit? Und um auf meinen Vater zurückzukommen, so hatte ihm diese Sache wahrscheinlich das Leben gerettet, aber seelisch war er zerstört. Und das hat natürlich auch auf uns Kinder Auswirkungen gehabt. Eher indirekt. Meine Eltern waren, für sich gesehen, zwei gütige, freundliche Menschen, die uns ungemein geliebt haben, aber zueinander überhaupt keinen Kontakt mehr finden konnten.

Nach seiner Rückkehr war er ein gebrochener, ein großer, dünner, verweifelter Mann. Der nie etwas erzählt hat von dem, was war. Der eigentlich weinend durch die Wohnung lief und meine Mutter nicht mehr beachtete. Unsere wirtschaftliche Lage war durch das Berufsverbot katastrophal. Er hat damals für Rentner Korrespondenzen gemacht, für Textilfachschüler Arbeiten abgeschrieben, und ich weiß noch, ich saß oft bei ihm im Arbeitszimmer, daß er für arme Leute Briefe und Gesuche an Walter Ulbricht geschrieben hat, für ganz wenig Geld. Zwei Mark hat er dafür genommen. Da konnte natürlich nicht viel zusammenkommen, um unsere kärglichen Verhältnisse aufzubessern. Wir standen, nicht was das betraf, außerhalb der normalen Lebensverhältnisse in der DDR, wir lebten auch gesellschaftlich vollkommen ausgegrenzt.

Die meisten Juristen waren damals ja in den Westen übergewechselt, viele der ehemaligen Verbindungen waren abgerissen. Es war so eine Einsamkeit, in die meine Eltern geraten waren... Wir Kinder hatten das schon gespürt. Meine Mutter versuchte zwar immer zu mildern, sagte: „Seid lieb zu Vater, er ist krank, man hat ihm alles genommen, deshalb ist er so traurig.“ Aber Kinder wollen eben auch laut sein, lustig sein und spielen. Mutter hatte schon mit 46 Jahren Krebs, war immer kränkelnd und hat dennoch nach Kräften alles bewältigt. Wäre mein Vater, so wie die meisten anderen Kollegen, auch in den Westen gegangen, er hätte bestimmt eine Anstellung gefunden in seinem Beruf, später seine Pension bezogen, und unserer gesamten Familie wäre das alles, was passierte, erspart geblieben.

Aber er wollte einfach nicht. Hätte es nicht die Zuwendungen aus der Verwandtschaft gegeben, ich weiß ja nicht, was aus uns geworden wäre. Ein Bruder meiner Mutter, er lebte in Amerika, der schickte uns beispielsweise diese Carepakete über Jahre. Das war für uns Kinder wunderbar, aber es hat natürlich am Unglück meiner Eltern nichts ändern können. Und wenn ich mir das heute überlege, das alles war für nichts! Mein Vater war kein Nazi, überhaupt nicht! Er stand natürlich auch nicht links, er war überhaupt kein extremer Mensch, er war im Gegenteil ein vollkommen harmloser Mensch – und er hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Das ist ja ausschlaggebend. Trotzdem hat die ganze Familie sozusagen gehaftet für das, was Nazirichter getan hatten. Ich durfte, obwohl meine Leistungen sehr gut waren, kein Abitur machen, auch meinem ältesten Bruder wurde der Besuch der Oberschule verwehrt, meine beiden anderen Geschwister bekamen zwar eine Genehmigung, durften aber dann nicht studieren. Für mich war das schlimm, ich wollte so gern auf die Oberschule, aber es war nichts zu machen. Ich schrieb sogar an den Präsidenten der Republik deshalb – das war damals Wilhelm Pieck –, ich bekam auch eine Antwort, sehr spät, nach mehr als einem Vierteljahr erst. Es war eine abweisende und ausweichende Antwort in dem Sinne, es sei nun ohnehin zu spät, und ein Übertritt würde die übrigen Schüler der Klasse dann nur behindern, so in dieser Art.

Ich bin – als einzige von der ganzen Familie – aus der DDR geflohen. 1955 ging ich zu einer Tante nach Frankreich. Mein ältester Bruder wurde Zimmermann. Der andere Bruder war begeistert von Physik, er wollte unbedingt Physik studieren, hat sich mehrmals vergeblich um einen Studienplatz beworben, dann wurde er aus Verzweiflung Russischlehrer. Seine besondere Tragik ist, daß man ihn sofort nach der Wende abgewickelt hat, dabei war er nicht einmal Mitglied der SED, nichts! Ja, und die Ehe meiner Eltern ging dann so zu Ende, daß meine Mutter an Krebs starb, das war ihr einziger Ausweg, mein Vater überlebte sie um zehn Jahre, bekam aber die Alzheimersche Krankheit.

Um nun auf die Geschichte von Paulis Tod zurückzukommen und auf die Briefe meiner Eltern... zuerst vielleicht auf die Briefe: Die lagen also jahrzehntelang in einer Kiste im Wandschrank, und ich wußte immer, das muß ich mal aufräumen, im Sinne von fertigwerden damit. Das war das eine. Dazu kam das andere große Problem... gerade war ich einigermaßen darüber hinweggekommen, daß meine Tochter das Haus verlassen hatte, um zu studieren und ihr eigenes Leben zu führen – was ja unvermeidlich ist, für eine alleinerziehende Mutter aber bedeutet, daß man allein zurückbleibt – da kam bereits der nächste Schlag durch den Auszug von Elke mit Mann und Kindern aus der Wohnung unten. Wir waren ja mehr als gute Nachbarn, wir waren Freunde, ja fast eine Familie, da bekam ich auch einen Asthmaanfall... Und dann das Dahinsiechen Paulis, dem letzten Wesen, das bei mir war..., es war furchtbar. Ich dachte, ich muß jetzt was unternehmen, meinen Schmerz irgendwie etwas mildern.

Also habe ich die Kiste mit den Briefen runtergeholt. Da standen dann zwei Stapel. Die Grube hatte ich ja schon ausgehoben – merkwürdigerweise in passender Tiefe –, da habe ich sie dann ganz unten hineingelegt, zusammen mit zwei meiner Tagebücher, dann Laub draufgehäuft, denn der Tierarzt sollte ja am nächsten Tag nicht sehen, daß da schon was drin war. Es lag alles ungelesen in der Grube, da dachte ich nach einiger Zeit, nein, in die Tagebücher wenigstens, da mußt du noch mal reinschauen. Ich ging also runter und grub sie wieder aus. Oben fing ich an zu lesen, zwischen den Seiten war schon alles voller Erde.

Die Tagebücher waren aus der Zeit meiner Ehe, ich las ein wenig und habe sie voller Entsetzen zugeschlagen. Dann ging ich wieder in den Garten und habe sie erneut vergraben. Am nächsten Tag kam der Tierarzt. Ich hielt Pauli im Arm. Er war sehr schwach. Der Tierarzt gab ihm die Spritze, und ich mußte weinen und sagte: „Danke, Pauli, vielen Dank, für die elf Jahre, die du mir geschenkt hast.“ Ich habe ihn gestreichelt und plötzlich fiel das Köpfchen zur Seite. Er war tot. Ich habe ihn dann in ein schönes indisches Tuch gewickelt und in sein Grab, auf die Briefe gebettet.

Danach war ich eine kurze Zeit lang fast etwas erleichtert, doch dann bin ich, ganz plötzlich, völlig zusammengebrochen. Ich bekam einen ganz schweren depressiven Schub. Ich bin morgens mit Brechreiz aufgewacht, und wollte nicht mehr weiterleben. Ich sah mich schon dort auf dem Bett leblos liegen. Ich mußte in die Klinik. Jetzt, nach der Gesprächstherapie, geht es mir eigentlich ganz gut. Nun ist alles irgendwie an seinem Platz.“

Zuletzt erklärt Dr. S., Parasitologe beim Gesundheitsamt, die Wirkungsweise des Rattengiftes:

Zur Frage der Zeit, die verstreichen kann zwischen der Auslegung des Köders und dem Eintritt des Todes, da kann ich natürlich nur ungefähre Auskunft geben, denn die kann ganz unterschiedlich lang sein. Sie müssen sich das so vorstellen: Die Ratte ist ein ausgesprochen mißtrauisches Tier mit einem sehr guten Gedächtnis. Wenn da plötzlich eine Köderdose – oder es kann auch ein alter Schuh sein – an einer Stelle steht, wo vorher nichts stand, dann umgeht die Ratte diesen Gegenstand oft tagelang, bis sie sich irgendwann an diesen Anblick gewöhnt hat und nähertritt. Und dann ist aber immer noch nicht sicher, was sie tut. Sie kann ein bißchen nagen und wieder gehen. Dabei geschieht ihr wenig. Sie kann den Köder mit nach Hause nehmen, ihn dort in ihrer Vorratskammer ablegen und erst viel später fressen. Das vergiftete Würfelchen ist etwa so zweieinhalb bis drei Zentimeter im Quadrat, das kann sie ganz bequem in ihren Bau bringen. Die Wanderratte übrigens legt sich immer Vorräte an, auch im Sommer. Es ist also durchaus möglich, daß sie auf dieses Futter erst sehr viel später zurückgreift oder auch nur ab und zu daran nagt.

Zur Frage der Wirkungsweise, also wir verwenden ein Antikoagulanzmittel, das bedeutet, einen Stoff, der der Bluterneuerung in der Leber und der Blutgerinnung entgegenwirkt, so daß es im betroffenen Organismus zu innerem Verbluten kommt. Sie müssen sich das nicht als furchtbares Leiden vorstellen. Die Ratte bemerkt kaum etwas davon, sie legt sich hin und macht ihr Sterbchen. Na ja, also. In Berlin verwendet man in der Regel Mittel der 2. Generation, die wirken sehr zuverlässig. Es dauert so fünf, sechs Tage bis der Tod eintritt, aber wie gesagt nur, wenn das Tier zuvor eine ausreichende Menge aufgenommen hat. Das ist der beabsichtigte Effekt, der Tod soll schleichend eintreten und schmerzlos. Die Ratte darf keinen Zusammenhang herstellen zwischen dem Fressen des Köders und ihrem nahenden Ende, verstehen Sie? Dieses intelligente und sehr soziale Tier würde nämlich im Falle, daß es die Giftigkeit des Köders erkennen könnte, weil nach dem Verzehr beispielsweise Schmerzen und Krämpfe auftreten, sofort an den Köder urinieren und Schreie ausstoßen. Auf diese Weise warnt es die ganze Sippe, keine ihrer Mitratten würde den Köder danach noch anrühren. So aber, wie gesagt, bemerkt die Ratte kaum etwas, sie wird nur müder und müder. Zuerst verläßt sie noch ihren Bau, dann aber werden ihre Bewegungen immer mühsamer, und sie zieht sich in ihn zurück. Sie legt sich zum Sterben nieder, aber nicht in ihre Wohnhöhle, sondern in einen Seitengang.

Und was die Frage der Gefährdung von Haustieren betrifft, so will ich nicht in Abrede stellen, daß beispielsweise ein Hund oder auch eine Katze eine solcherart geschwächte Ratte schon mal fangen und fressen kann. Eine solche Katze beispielsweise würde es dann durchaus mit den Symptomen der Ratte zu tun bekommen. Aber da entsteht in der Regel kein Schaden, denn diese Katze bekommt ja am Abend ihr Freßchen, ihr Schälchen Milch hingestellt, und da ist Vitamin K drin! Vitamin K hebt den ausgelösten Mechanismus auf, indem es in der Leber dafür sorgt, daß Prothrombin gebildet und die Blutgerinnung wieder eingeleitet wird. So kann eigentlich nichts passieren.

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