Wodka wäre schon okay gewesen

Durcheinander der Konzepte und Befindlichkeiten: Zweimal war das Programm des Berliner Ensembles für den ersten Todestag von Heiner Müller geändert worden – zu sehen gab es letztlich eine Revue von Werner Schroeter  ■ Von Petra Kohse

Montag abend in Berlin, und zunächst paßt alles zusammen. Daß zehn bis zwölf Grad Kälte herrschen, auf der Spree aber keine Eisschollen schwimmen. Daß der Akkordeonspieler, der sonst immer auf der Schiffbauerbrücke sitzt, nach anderswo gegangen ist. Daß zwar die Füße des Brecht- Denkmals im Schnee stecken, auf dem spitzen Dach des Berliner Ensembles aber keiner liegt. Daß Berlin-Mitte, kurz gesagt, am ersten Todestag von Heiner Müller witterungsbedingt ein Wintermärchen sein könnte, aber keines ist.

„Der Rest heisst Abgrund Grauen oder Lust“ steht auf der Ankündigungsfahne des Brecht- und-Müller-Theaters am Schiffbauerdamm – die vorletzte Zeile aus Müllers Gedicht „Showdown“ und der Titel einer Revue von Werner Schroeter, die zu Ehren Heiner Müllers kurzfristig anberaumt wurde.

Um die Aufmerksamkeit von „Lust“ auf „Abgrund“ (oder auch „Grauen“) zu lenken, wird Revue hier dräuend „Re-vue“ geschrieben, danach heißt es noch „H.M.30.12.“, was von Ferne, wenn man die Punkte nicht sieht, wie der Name einer chemischen Verbindung wirkt: HM3012 (Wie hoch ist der HM3012-Gehalt? Gebt doch noch etwas HM3012 dazu!).

Sehr viele Leute sind nicht gekommen, und nur wenige vermitteln einen festlichen Eindruck, wie der Mann, der einen schottischen Kilt trägt, obwohl er damit Rheumatismus an den Knien riskiert. Die Würdenträger des Hauses, die Gesellschafter und Direktoren, halten sich, wenn überhaupt, im Hintergrund auf.

Auf der Bühne ist eine Hochzeitstafel aufgebaut, Jörg Michael Koerbl im Frack führt Ulrich Hoppe als bärtige Braut herein. Sie setzen sich, andere setzen sich auch, dann wird deklamiert und gesungen, manchmal auch geschwiegen oder getanzt. Texte von Ingeborg Bachmann, Brecht, Hölderlin, Müller oder Schiller, Musik von Harry Belafonte bis Verdi und Kurt Weill. Am Anfang und am Ende wird ein Schriftzug auf die rückwärtige Wand projiziert: „Lieber Schatten, dessen Name...“ Danach ein Kinderfoto von Heiner Müller. Gerade so, als ob sich hinter den Initialen „H.M.“ das Unaussprechliche verbergen und einem Blick durch die Brillengläser des zuletzt 66jährigen keiner standhalten könnte. Merkwürdig.

Manche Nummern der Revue sind gut, andere nicht. Warum aber dieses Brautpaar? Hatte sich Müller für die Legalisierung der Homoehe stark gemacht? Egal. Volker Spengler aalt sich selig in den Rezitationen wie eine Kartoffel in Sahnesauce, Koerbl macht sein gewitztes Schildkrötengesicht, Axel Werner verbreitet kluge Indignation mit etwas wirrem Haar. Zum Schluß hat niemand am Tischtuch gezogen, irgend jemand spricht „Showdown“ in ganzer Länge, und Zazie de Paris als Gast und in großer Garderobe stimmt den „Alabama Song“ an: Show me the way to the next Whisky Bar...

Als das Licht im Saal angeht, ruft einer aus tiefster, berlinischer Seele: „Armet BE!“ Bravorufe gibt es aber auch, und Werner Schroeter kommt tapfer auf die Bühne, mit Erkältungsschal. Ein Abend zum ersten Todestag von Heiner Müller. Ein Abend des Gedenkens und der Rechenschaft: Was hat man vorzuweisen nach einem Jahr? Allerlei Ratlosigkeit.

Meinen Schatten von gestern/ Hat die Sonne verbrannt/ In einem müden April/ Staub auf den Büchern/ In der Nacht/ Gehn die Uhren schneller/ Kein Wind vom Meer/ Warten auf nichts (Heiner Müller: „Leere Zeit.)

Eigentlich hätte an diesem Abend aber etwas ganz anderes gezeigt werden sollen: Die letzte Vorstellung von Müllers „Bau“ in der Regie von Thomas Heise. Wodka und f6-Zigaretten waren bei der Premiere im letzten Februar gereicht worden, und mit Wodka, f6-Zigaretten und einem Blick auf Zerfallserscheinungen in den Jahren des sozialistischen Aufbaus hätte man den Anlaß stilsicher begehen können. Wodka wäre schon okay gewesen, denn 1963/64, als er das Stück schrieb, trank Müller auch noch keinen Whisky. Sagt der Regisseur, der zu Recht verärgert ist, daß der Spielplan vor drei Wochen dann doch wieder umgeworfen wurde.

Statt der Derniere des „Bau“ wurde nun die Premiere von „Monsieur Verdoux“ annonciert, eine Chaplin-Inszenierung des Gastregisseurs Werner Schroeter. Mit Martin Wuttke in der Hauptrolle. Vermutlich wegen der Wirren nach Wuttkes Rücktritt als Intendant Anfang Dezember konnte der ursprüngliche Premierentermin (22.12.) nicht gehalten werden. Daß bei der Bemühung, einen prominenten Ausweichtermin zu finden, aber ausgerechnet der „Bau“ verdrängt wurde, ist von symptomatischer Unachtsamkeit.

Der „Bau“ gehört nicht zu den Lieblingsprojekten des Hauses. Gelassen und doch analytisch streng inszeniert steht diese Arbeit zwar in der besten Tradition des Berliner Ensembles, hat aber Schwächen. Einige gar zu spröde Stellen, die dem 41jährigen Regisseur Heise auch „um die Ohren geschlagen“ wurden, wie er sagt. Möglicherweise rühren diese Schwächen jedoch daher, daß Heise seinerzeit trotz ungünstigster Probenbedingungen den festgelegten Premierentermin gehalten hatte. Nicht weil er mit dem Ergebnis zufrieden gewesen wäre, sondern weil Heiner Müller ihn darum gebeten hatte.

„Wie hätte ich da nein sagen können?“ fragt Heise, der Sohn des Philosophen Wolfgang Heise und der Romanistin Rosemarie Heise, mit denen Müller seit Ende der 50er Jahre befreundet gewesen war.

„Monsieur Verdoux“ indessen ist erneut verschoben worden. Was nicht Werner Schroeters Schuld ist: Martin Wuttke wurde Mitte Dezember krank. Statt nun aber doch den „Bau“ zu zeigen, ließ man Schroeter schnell besagte Revue konzipieren, „damit das Ensemble nicht müßiggeht“, wie es Carl Hegemann ausdrückt, Chefdramaturg und Direktoriumsmitglied am Berliner Ensemble. Den „Bau“ würde man dann im Februar ordentlich abschließen. Was wiederum Heise nicht mitmachen wird, ist dies doch nicht die erste Mißachtung seiner Arbeit, die ihm seit Müllers Tod widerfährt.

Sollte Thomas Heise nach Müllers Plänen in der Spielzeit 1995/96 noch Arnolt Bronnens „Vatermord“ inszenieren, war Hegemann/Wuttke dies wohl zu spektakulär. Man einigte sich auf ein anderes Bronnen-Stück, „Anarchie in Sillian“. Ein Probenbeginn steht jedoch bis heute nicht fest. Statt dessen arrangierte Mitdirektor Stephan Suschke das unselige „Eva Braun“-Stück, und im Oktober wurde Heise über die Nichtverlängerung seines Vertrags informiert. „Natürlich wollen wir Thomas Heise weiterhin als Regisseur beschäftigen“, sagt Hegemann. „Produktionsweise eben. Er war ja, glaube ich, als Regieassistent engagiert, das ging sowieso nicht mehr.“ Stimmt nicht. Heise hatte einen Vertrag als Regisseur.

Hier offenbart sich natürlich Theaterknatsch. Daß Heise nach Einar Schleef aber der BE-gemäßeste Regisseur ist, macht die Sache jedoch ebenso bedenklich wie die Unoffenheit, mit der er ins Abseits gedrängt wird. Es ist das gleiche Hin- und Herlavieren im Haus, das Einerseits, Andererseits, dem letztlich wohl auch Schleef und Wuttke zum Opfer gefallen sind.

Schleef, der Hauptmanns „Weber“ inszenieren sollte, dann aber nicht zur vereinbarten Zeit mit den Proben beginnen durfte, woraufhin er streikte und wegen Arbeitsverweigerung entlassen wurde. Von dem Geschäftsführer Peter Sauerbaum. Die Entlassung hätte ein formaler, ein interner Vorgang bleiben können, sagt Hegemann. Man hätte sich mit dem reumütigen Schleef einigen können. Dann aber bekam die Presse Wind davon. Von wem, weiß er nicht.

Und Wuttke, der eine finanzielle Zusicherung des Senats über das Jahr 1998 hinaus verlangte. Sein Ultimatum konnte er mit der relativen Gewißheit stellen, daß sein Geschäftsführer Sauerbaum, ein ehemaliger Senatsangestellter, schon wissen würde, was sich beim Senat erreichen ließe. Zur „grenzenlosen Überraschung“ aller (Hegemann) blieb die Zusicherung vom 4. Dezember dann aber unzureichend, woraufhin Wuttke zurücktrat. Zwei Tage später lag ein zureichendes Schreiben vor.

Weil die Sicherheit nun gegeben und Wuttkes Rücktritt gewissermaßen ein Mißgeschick war, blieb auch Hegemann – zusätzlich ermuntert von den Gesellschaftern Fritz Marquardt und Peter Palitzsch – im Amt, obwohl er sein Schicksal vier Wochen zuvor eindeutig an das Martin Wuttkes geknüpft hatte.

Mittlerweile wird überlegt, wie man Wuttke – vielleicht als Ensemblesprecher – erneut in die Leitung holen kann, zu der neben Hegemann und Suschke mittlerweile auch Sauerbaum zählt. Wer will hier eigentlich was und warum? Und wie viele Köpfe braucht ein Direktorium?

„Es ist ja alles nur eine Zwischenphase“, sagt Hegemann, der viel lieber wieder mal ein Stück lesen würde, als „Managerarbeit“ zu machen. Doch seit Müllers Tod hat sich überhaupt nur eines gezeigt: In dem Maße, wie das Heil außerhalb des Hauses gesucht wurde, stieg die Verwirrung und schwand die künstlerische Kraft. Obwohl Wuttke mit dem Vorsatz angetreten war, auf das Ensemble und die Tradition zu setzen, hat er zusammen mit Hegemann reichlich Gäste engagiert, aus völlig anderen, westlichen Kunstwelten. Was auch sein Gutes hat. Immer schneller wurden immer mehr Fehler gemacht, tiefer kann das Theater kaum noch sinken.

Mittlerweile sagt Carl Hegemann, erschöpft von diesem Durcheinander der Konzepte und Befindlichkeiten: „Das Berliner Ensemble muß auch ein Museum sein dürfen. Ein Museum und ein Experimentierfeld.“ B.K. Tragelehn wird daher Müllers „Umsiedlerin“ inszenieren und Frank-Patrick Steckel Brechts „Badener Lehrstück“.

Beginnt im Jahre 2 p.M. die Konsolidierung? „In Gefahr und höchster Not ist der Mittelweg der Tod“, hieß es in der Gedenkrevue. Wo nur steckt diese verdammte Ampulle HM3012?!