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Vergessen in der Wüste

2.000 marokkanische Gefangene werden seit fast 20 Jahren von der Polisario in algerischen Lagern festgehalten. König Hassan II. läßt sie nur zögernd zurück  ■ Von Reiner Wandler

Tindouf – Die Sprechstunde ist zu Ende. Mohamed Sidi räumt seine kleine Arztpraxis auf und gesellt sich danach zu den Dutzenden von Männern, die vor den winzigen weißen Kuppelgebäuden im Schatten sitzen. Der staubige Platz in der Mitte der Häuserzeilen, die sich an die Wände des kesselartigen Einschnitts zwischen zwei Felswänden drängen, ist leer. Noch steht die Sonne zu hoch, um sich dort aufzuhalten. Der Wind treibt mit Blättern und einigen Papierfetzen zwischen langen Stuhlreihen seinen Schabernack.

Fein säuberlich sind die Stühle vor einem gemauerten Regal aufgestellt. Zuoberst dröhnt ein alter hölzerner Fernseher, darunter ein Lautsprecher. Abends drängeln sich hier alle um eine der Sitzgelegenheiten. Das algerische Staatsfernsehen ist eine der wenigen Abwechslungen hier draußen in der Wüste. Und vielleicht haben sie ja heute wieder Glück und schnappen ein paar Bilder aus der Tausende von Kilometer weit entfernten marokkanischen Heimat – aus Rabat, Tanger, Fès oder Casablanca – auf.

„Ich wurde 1979 zusammen mit hundert Soldaten gefangengenommen“, erinnert sich Mohamed Sidi. An jenem Morgen drangen die Polisariokämpfer, die für die Unabhängigkeit der 1976 von Marokko besetzten Westsahara kämpfen, in den kleinen Grenzort ein, in dem Mohamed seinen Militärdienst ableistete. Vom Krieg wußte der 20 Jahre junge Medizinstudent zwar. Aber daß es ihn, der er als Arzt in einer kleinen Kaserne eingesetzt war, erwischen könne, daran hatte Mohamed nie gedacht.

Die Polisario brachte ihre Gefangenen in die Flüchtlingscamps auf der anderen Seite der algerischen Grenze. Fast 2.000 sind es mittlerweile, die in drei Lagern in diesem trostlosen Stück Wüste mit 200.000 vor dem Krieg geflohenen Sahraouis ihr Schicksal teilen. Die Gefangenen leben wie die Flüchtlinge auch von internationalen Hilfsgütern. Sie werden zu schweren Arbeiten abgestellt: in den Bewässerungsgärten, der Viehzucht oder auf dem Bau. Die sahraouischen Männer, die normalerweise diese Arbeiten verrichten, sind alle an der Front. Über 30.000 Mann zählt das Guerillaheer für die Befreiung der Westsahara.

Wenn die Sonne sinkt, kommt Leben in die Hügellandschaft. Mit langen Spaziergängen vertreiben sich kleine Gruppen von Gefangenen die Langeweile nach getaner Arbeit. Andere suchen die Einsamkeit einer Düne für das Abendgebet. Die Zufahrt zum Camp verwandelt sich in einen improvisierten Fußballplatz. Wächter und Gefangene hocken im Schatten der Mauer und schauen gelangweilt dem Gebolze zu. „Warum wir nicht besser auf die Gefangenen aufpassen?“ Der greise Polisariokrieger in seiner improvisierten Uniform grinst und deutet auf die endlose Landschaft.

Nein, an Weglaufen ist hier wirklich nicht zu denken. Ohne Ortskenntnisse und ohne Wasser bedeutet jeder Fluchtversuch hinaus in die endlose Weite den sicheren Tod. Und sollte es doch jemandem gelingen, den Weg aus der unwirtlichen Landschaft zu finden, läuft er zwangsläufig seinen Wärtern in die Hände. Auf der einen Seite liegt die streng kontrollierte algerische Garnisonsstadt Tindouf, in die nur einreisen darf, wer vom Verteidigungsministerium in Algier ein Regionalvisum erhält. Die andere Richtung führt in die Westsahara.

Auch wenn in der ehemaligen spanischen Kolonie seit fünf Jahren die Waffen schweigen, steht die Front noch immer. Um zu ihren Landsleuten zu gelangen, müßten etwaige marokkanische Ausreiser zuerst die Stellungen der Polisario und danach die Minenfelder, Gräben und den insgesamt 2.500 Kilometer langen Verteidigungswall des marokkanischen Heers überwinden. Ein schier unmögliches Unterfangen.

Wenn das Internationale Komitee vom Roten Kreuz alle paar Monate Post bringt, ist Feiertag im Lager. Dann lesen die Gefangenen mit zittrigen Händen die Nachrichten von zu Hause. Von Menschen, deren Gesichter mit den Jahren verschwommen sind, von Kindern, die heute studieren und arbeiten und in der Erinnerung doch nur als kleines quengelndes Windelpaket existieren. Schnell wird eine Antwort abgefaßt, wenn man schreiben kann. Wenn nicht, bittet man einen Kameraden um Hilfe.

Falls das Rote Kreuz gerade nicht kommt, benutzen die Gefangenen die immer seltener kommenden Journalisten als Kuriere. Vor allem Fotografen sind begehrt. Wo immer jemand mit einer Kamera auftaucht, ist er sofort von einer Menschentraube umringt. „Bitte ein Foto von mir!“ rufen alle durcheinander, in der Hand den bereits fertigen Brief an die Liebsten zu Hause. In diesen Umschlag soll der Fotograf, einmal zurück in der Redaktion, dann die Abzüge eintüten und verschicken.

In letzter Zeit bekommt Mohamed ganz besondere Post. „Mir schreiben ein paar ehemalige Gefangene“, erzählt der Arzt. Sie gehören zu einer Gruppe von 200 Gefangenen, deren Freilassung die Polisario bereits 1989 ohne Gegenforderungen dem Roten Kreuz angeboten hatte. Den meist alten und kranken Marokkanern sollte so noch ein Wiedersehen mit ihren Familien ermöglicht werden, bevor sie sterben.

Die Überraschung war groß, als König Hassan II. sich weigerte, seine ehemaligen Soldaten zurückzunehmen. Die Sahraouis haben dafür eine einfache und doch einleuchtende Erklärung: „Für Hassan sind nur tote Soldaten gute Soldaten. Wer in Gefangenschaft gerät, ist ein Feigling und Verräter, und, viel schlimmer noch – nach jahrelangem friedlichem Zusammenleben mit den sahraouischen Flüchtlingen gar eine Gefahr.“

Was passiert, wenn sie wie Mohamed von der „Anständigkeit und Ehrlichkeit der Sahraouis“ schwärmen oder gar einsehen, warum das Wüstenvolk die Unabhängigkeit beansprucht? Sechs Jahre zähen diplomatischen Ringens unter der Vermittlung der USA und verschiedener europäischer Regierungen gingen ins Land, bevor der marokkanische Monarch einlenkte. Für 30 Gefangene kam die Entscheidung zu spät, sie waren gestorben. Wie anders war das Bild, als Ende Oktober 1996 Marokko unter Vermittlung der deutschen Bundesregierung 66 der rund 600 gefangenen Polisariosoldaten freiließ. Die Heimkehrer wurden in den sahraouischen Flüchtlingscamps als Helden gefeiert.

„Ich weiß nicht, was da los war“, wehrt Mohamed jede Frage über die zögerliche Haltung von Hassan II. und die politischen Zustände zu Hause ab. Er hat Angst, etwas Falsches zu sagen, was dann, irgendwo veröffentlicht, in die Hände der marokkanischen Geheimpolizei geraten könnte. Denn auch nach all den Jahren hat Mohamed seine Hoffnung auf eine Rückkehr immer noch nicht aufgegeben.

Seit Radio Polisario von den direkten Gesprächskontakten zwischen Polisario und Marokko berichtet, glauben hier wieder alle, daß ihr über zehnjähriges Warten bald ein Ende haben wird. Bis es soweit ist, macht Mohamed jeden Morgen die kleine Praxis im Lager auf, denn „ein Arzt ist immer dort am richtigen Platz, wo er gebraucht wird und er seinen Beruf ohne Einschränkungen ausüben kann“, lautet seine feste Überzeugung. Sie hat ihm die langen Jahre des Wartens erleichtert.

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