: Betrieb und Kultur
Wer hat Angst vor der Unternehmenskultur? Der Kulturbetrieb sollte sich auf seine diagnostischen und vergleichenden Potentiale besinnen ■ Von Dirk Baecker
Es scheint nicht viel mehr erforderlich zu sein, als den Geist zu lockern, das Gemüt umzustimmen, den Blick zu heben, um zu sehen, daß potente Adressen bereitstehen, der Kultur einen Ausweg aus den versiegenden Quellen staatlicher Kulturförderung zu weisen. Das Geld ist in der Wirtschaft. Und obwohl man niemanden trifft, der es tatsächlich mit vollen Händen ausgibt, scheint es in kaum noch zu bewältigenden Mengen vorhanden zu sein. Was also spricht dagegen, die Unternehmen viel stärker als bislang zur regelmäßigen Kulturförderung heranzuziehen?
Nichts spricht dagegen. Geld ist Geld, sollte man meinen. Und Kultur ist Kultur. Was würde die Kultur noch taugen, wenn sie nicht in der Lage wäre, die Gelder der Wirtschaft ebenso für ihre Zwecke einzuspannen wie die Gelder des Staates? Welchen Unterschied macht es denn, ob die Gelder auf dem Umweg über die Zwangszahlungen der Steuern oder die freiwilligen Zahlungen der Konsumenten in die Kassen der Kultureinrichtungen gelangen? Fehlt uns die nötige Chuzpe oder die nötige Naivität?
Verblüffend ist, wie unklar es ist, was überhaupt unter „Kultur“ zu verstehen ist. Wenn es einen Begriff gibt, der die Karl-Valentinsche Devise, ein Wort mehrfach hintereinander auszusprechen, um zu sehen, was es taugt, nicht überlebt, dann ist es der Begriff der Kultur. „Kultur“, das war bei den Griechen und Römern ein genaues Wissen darum, daß das, was in der Welt entstehen kann, aus sich selbst heraus entsteht und dennoch Pflege braucht, um entstehen zu können.
Kultur kam damals nur mit einem Genitiv vor: Agrikultur, cultura animi (Ciceros Ausdruck für die Philosophie), cultura dolorum (der Glaube der Christen). Im Begriff der Kultur war das Wissen um die Differenz verfügbarer und unverfügbarer Ursachen bei allem, was entsteht und sich reproduziert, enthalten. Gegenüber den unverfügbaren Ursachen kann sich der Mensch nur in ein Verhältnis der Pflege und Verehrung setzen, wenn er den wenigen Ursachen, auf die er Zugriff hat, ihre Chance geben will. Kultur impliziert Kultivierung in einem Sinne, wie er in den Naturwissenschaften im Zusammenhang mit zum Beispiel Bakterienkulturen heute noch gang und gäbe ist. Kultivieren kann man nur, wozu man steht und sich bekennt, was man jedoch gleichzeitig nicht in den Händen hat.
In der Neuzeit ist aufgrund der Erfahrungen aus Kontakten mit anderen, nichteuropäischen Gesellschaften ein zweiter Kulturbegriff entwickelt worden, der darauf abstellt, daß in anderen Gesellschaften andere Sitten herrschen, ohne daß man deswegen annehmen müsse, es handele sich nicht um Menschen. Der Kulturbegriff, so muß man wohl sagen, tritt an die Stelle der alten Differenz von Menschen und Barbaren, die in „Hochkulturen“ (ein interessantes Wort) eine mehr oder weniger ausgeprägte Rolle spielte. Und er erbt von dieser Differenz die Aufgabe, im Streit der Kulturen sowohl (im Zweifel sich selbst) aufwerten als auch (im Zweifel andere) abwerten zu können.
Je nach Bedarf konnte die eigene Kultur als Glückszustand im Vergleich mit dem Naturzustand (Samuel von Pufendorf) oder als Unglückszustand im Vergleich mit natürlicheren Gesellschaften (Jean-Jacques Rousseau) bezeichnet werden. Was hat dieser neuzeitliche Kulturbegriff mit dem antiken zu tun? Warum heißt es in beiden Fällen „Kultur“? Hat man es mit einem Begriffsunfall oder mit einer versteckten Begriffskontinuität zu tun?
Der neuzeitliche Kulturbegriff verliert den Genitiv und bezeichnet etwas Für-sich-Stehendes, Eigensinniges und Eigendynamisches. Und er reichert sich an mit der Möglichkeit, nicht nur so oder anders werten, sondern auch über Werte streiten zu können. Er zeugt die Intellektuellen (Frankreichs „philosophes“), die sich dieses Streits mit Hingabe annehmen. Aber steckt noch irgend etwas vom alten Sinn der Pflege im neuen Begriff? Geht es noch um einen Sinn für Unverfügbares? „Culture ist bias“, sagt Mary Douglas. Unsere Kultur ist der Streit über die Kultur. Dieser Streit schwächt die Tradition. Aber er hält sie auch verfügbar, wenn auch befreit vom Gestus der Verpflichtung. Bei der neuzeitlichen Kultur kommt es darauf an, Vergleichsmöglichkeiten gesellschaftlicher Gepflogenheiten zu gewinnen. Für diesen Vergleich muß man in Kauf nehmen, daß nichts mehr zwingend sein kann, auch nicht der Vergleich. Über den Vergleich pflegen wir, worüber wir nach wie vor nicht verfügen können. Kultur ist eine Frage des Respekts. Kultur ist die Erinnerung daran, daß wir kaum eine Ahnung davon haben, wovon wir abhängen, wenn wir uns die Welt zurechtlegen.
Kultur zielt auf den Vergleich von etwas, das man dem Vergleich am liebsten entzogen wissen würde. Wer von Kultur spricht, spricht von etwas Einzigartigem, Unvergleichbarem und Seltenem – und muß dann nicht nur entdecken, daß es dies im Überfluß gibt, sondern auch, daß es immer wieder Typisches, Ähnliches und Regelmäßiges aufweist. Keine Verknappung entzieht die Kultur dieser Leistung, die sie überall und vielfältig zu erfüllen vermag: das Einzigartige festzuhalten und es über den Vergleich verfügbar zu machen.
Wenn man zur Kulturförderung hinfort stärker auf privatwirtschaftliche als auf staatliche Mittel zurückgreifen will, dann muß man zunächst einmal sehen, daß wir nur über eine Akzentverschiebung diskutieren. Die Mittel der öffentlichen Hände sollen nicht ersetzt werden. Es soll nur andernorts ergänzt werden, was dort eingespart werden muß. Wir diskutieren nicht über Alternativen, sondern über Varianzen. Eigentlich ärgert sich der Kulturbetrieb nur darüber, daß überhaupt darüber diskutiert werden muß, wo die Mittel herkommen. Es war viel einfacher, den Kulturbegriff emphatisch hochzuhalten und so der Diskussion zu entziehen, um dann ganz selbstverständlich die Politik dafür in Anspruch zu nehmen, ihren Zwangszugriff auf die Steuerzahler auch in den Dienst der zweifelsfrei wichtigen Kultur zu stellen.
Man köderte die Politik mit dem vermeintlich bürgerlichen Bedarf an Kultur und verwendete in großartiger Subversion die ergatterten Mittel, um dieselben Bürger mit den Produkten des bürgerlich finanzierten Kulturbetriebs zu plagen. Je nach kommunaler Machtverteilung konnte man mit den Politikern gegen die Bürger oder mit den Bürgern gegen die Politik paktieren und wußte sich so immer auf der besseren, auf der kulturkritischen Seite. Tatsächlich beutete man jedoch nur aus, was der Kulturbetrieb hergab: „Vergleiche dich mit den anderen!“, das ist die immer wieder neu ausgegebene Devise, die je nach Bedarf beunruhigend oder beruhigend, komödiantisch oder tragisch, bunt oder grau, als Kammerspiel oder große Oper, in opulenter Körperlichkeit oder karger Intellektualität ausgemünzt werden kann.
„Wer bin ich?“ ist die Frage, die der Kulturbetrieb in Theatern, Museen, Ausstellungen, Konzerten und Happenings immer wieder zu beantworten sucht. Nur deswegen greift dieser Betrieb auf die Kunst zurück. Denn in der Kunst, und nur dort, erleben wir, was ein Individuum sein kann. Überall sonst wissen wir das Individuum in größter Abhängigkeit. Um an das Individuum, seinen Verstand und seine Körperlichkeit, seinen Willen und seine Wachsamkeit, seinen Glauben und seine Einfälle glauben zu können, brauchen wir Künstler, ihre Werke nehmen wir als willkommene Beigabe in Kauf.
Zusätzlicher Sinn bei günstiger Konjunktur
Der Kulturbetrieb kann es sich einfach machen. Er kann dort, wo Unternehmen bereits Stiftungen angewiesen haben, etwas für die Kultur zu tun, seine eigenen Projekte lancieren und wie immer über die Pflege persönlicher Netzwerke dauerhafte Finanzierungsbereitschaften zu schaffen versuchen. Die Semantik dafür ist nach wie vor der hohe Wert der Kultur, nebst einem immer passenden Appell zur Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung für den individuellen Künstler, unseren letzten Mohikaner, und seine zahlreichen Funktionäre.
Aber das wird nicht reichen. Unternehmen sind Organisationen. Organisationen haben Programme. Und Programme müssen intern legitimiert werden. Die Politik hat uns mit ihren Programmen, deren Legitimation jahrezehntelang nahezu unverändert blieb, verwöhnt. Kultur und Wissenschaft, Sport und Caritas wußten, welche Sprache zu sprechen war, um die Politik bei der Stange zu halten. Und wer hätte je erlebt, daß die Politik aus irgendeinem Programm auch mal wieder ausgestiegen wäre? Man konnte sich auf Sperrklinkeneffekte verlassen und die ganze Arbeit darauf konzentrieren, Wachstumspotentiale auszuschöpfen.
In Unternehmen ist das anders. Unternehmen setzen ihren Managementstolz in die Fähigkeit, bei Bedarf, das heißt bei ausbleibendem Nutzen, auch wieder aussteigen zu können. Unternehmen überprüfen ihre Programme kontinuierlich. Sie suchen nach Rückkopplungen. Je größer das Unter
Fortsetzung nächste Seite
Fortsetzung
nehmen ist, desto länger können die Programme auch unüberprüft weiterlaufen. Und je weiter die Programme vom Kerngeschäft entfernt sind, desto nachsichtiger wird das Unternehmen, bis es schließlich nur noch darum geht, eine steuerlich absetzbare Fassadenpflege aufrechtzuerhalten. Aber irgendwann wird jedes Programm überprüft, und sei es unter dem Druck drohender feindlicher oder freundlicher Übernahmen.
Natürlich kann sich der Kulturbetrieb darauf konzentrieren, mit Unternehmen zu paktieren, um ihnen die Fassadenpflege abzunehmen. Hatte man bisher den Stadtvätern ihre Sinnarbeit abgenommen, so kann man dies jetzt auch den Unternehmern anbieten. Aber man wird Überraschungen erleben.
Stadväter und -mütter glauben, ihren Bürgern Sinnarbeit schuldig zu sein. Unternehmer sind ihren Kunden nur Produkte schuldig. Zusätzlicher Sinn macht nur Sinn, wenn die Konjunktur günstig ist. Ist sie ungünstig, zieht man sich aus der Kulturarbeit wieder zurück.
Nein, die entscheidende Frage scheint zu sein, ob der Kulturbetrieb den Unternehmen etwas bieten kann, was sowohl in deren Interesse wie auch im Interesse des Kulturbetriebs liegt. Muß der Kulturbetrieb seine Seele verpfänden? Schlimmer noch, muß er die Privatwirtschaft dazu bringen, die Hypotheken zu refinanzieren, die man bei der Politik längst aufgenommen hat? Oder gibt es in den Unternehmen ein Interesse an einer Arbeit an Kultur, das der Kulturbetrieb bedienen kann?
Man kann die Diskussion über Varianten der Kulturförderung nur weiterbringen, wenn der Kulturbetrieb sich dazu aufrafft, nicht nur nach neuen Geldtöpfen zu fragen und sich alte Bedenklichkeiten wegzutherapieren, damit man auf diese Töpfe guten Gewissens auch zugreifen darf. Sondern der Kulturbetrieb muß sich anschauen, was das Interesse der Privatwirtschaft an der Kulturförderung sein könnte. Dieses Interesse erschöpft sich nicht in Imagepflege und Steuersparmodellen, so wichtig beides ist. Sondern es geht darüber hinaus um ein Interesse an der Bearbeitung und Abarbeitung von tiefgreifenden Verunsicherungen in den Unternehmen.
Niemand wird dies anders als unter vier Augen eingestehen. Organisationen haben keine Sprache für Verunsicherungen. Aber Unternehmen bewegen sich heutzutage auf unruhigen Märkten, in irritierten Milieus, unter ungewissen politischen Konstellationen. Sie haben es mit unklaren ökonomischen Trends, unzuverlässigen Motivlagen ihrer Mitarbeiter und wankelmütigen Kunden und Lieferanten zu tun. All das bedingt, daß es höchste Zeit für Sondierungsaktionen ist. Mit welchem gesellschaftlichen Umfeld haben es Unternehmen zu tun? Wie schnell kann sich was und aus welchen Gründen ändern? Wer besitzt ein Sensorium für Veränderungen? Wer ist hinreichend unempfindlich gegenüber dem Hang der Organisationen zur Selbstberuhigung, um Unruhe austragen und fruchtbar werden zu lassen?
Warum reden Unternehmen mit Künstlern? Warum sprechen Manager mit Funktionären des Kulturbetriebs? Wenn es dem Kulturbetrieb gelingt, auf diese Fragen seine eigenen Antworten zu finden, braucht er sich keine Sorgen mehr darum zu machen, daß er sich den Unternehmen andienen könnte. Denn dann nähme der Kulturbetrieb endlich wieder seine diagnostischen, seine vergleichenden, seine Unruhe aufnehmenden und bewältigenden Funktionen wahr, die allzu lange bei der Politik in allzu stabilen Händen lagen.
Abschied von Provinzialismen
Während sich der Kulturbetrieb dankbar und mißtrauisch an den Bürgern rieb, erweiterte sich die kleine Welt der europäischen Nationalstaaten zur großen Welt einer globalen Verhandlung über die Neuverteilung von Produkt- und Individualisierungschancen. Die Wirtschaft kam nicht darum herum, diese Erweiterung zur Kenntnis zu nehmen. Jetzt beginnt der Kulturbetrieb nachzuziehen und von seinen Provinzialismen Abschied zu nehmen.
Der Kultur eignete immer schon etwas von einer Wette: Worin liegen, im Vergleich des Unvergleichbaren, die Möglichkeiten des Einzigartigen? Der Kulturbetrieb hat in den vergangenen Jahrzehnten, gepampert durch die Politik, die Fühlung zur Gesellschaft verloren. Er kämpft den Streit von vorgestern.
Er weiß nicht, was um ihn herum, auch in der Politik, geschieht. Vielleicht begreift er etwas von dem, was ansteht, wenn er den Blick hebt und sich für neue Geldquellen interessiert. Aber dann darf man es ihm nicht zu einfach machen. Und man darf dem Betrieb nicht den Respekt zollen, den man der Kultur schuldet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen