■ Vorschlag
: Ästhetikschule besonderer Art: Schöneberger Elfenspaziergang

Ganz zum Schluß, am Grab der Brüder Grimm auf dem St. Matthäus-Kirchhof an der Großgörschenstraße, äußerte die Dame mit der dicken Pelzmütze ihren besonderen Dank. Es war ihr offenkundig ein Anliegen, denn eigentlich sah sie nicht so aus, als ob sie im Überschwang der Gefühle das Wort ergriffe. Aber vielleicht hatte sie ja eines der fabelhaften Wesen gesehen, denen wir auf der Spur waren. Was wir alle, rund zwanzig Leute, in jedem Fall gesehen hatten, war eine raffinierte Kunstperformance. Immerhin hatten wir an Wolfgang Müllers und Oger Grafes „Elfenspaziergang“ teilgenommen, einer Ästhetikschule der besonderen Art, da die Wahrnehmung von Elfen, Kobolden und Zwergen bekanntlich keine gewöhnliche Angelegenheit ist.

Der Schöneberger Elfenspaziergang nimmt seit November jeden Samstag um zwei Uhr seinen Ausgang bei der Langenscheidtbrücke. Dort auf dem S-Bahn-Gelände leben nämlich die sogenannten Fliedermaidas. Sie sind winzig klein, höchsten zwei Zentimeter groß, so daß man sie leicht mit Insekten verwechseln kann. Fliedermaidas leuchten in der Regel hellgrün und gehören zur Gruppe der Nektarzungenelben. Wie der Name besagt, ernähren sie sich von Blütennektar, vornehmlich von Flieder- und Holunderbüschen. Es ist gut zu wissen, wo die Elfen leben, andernfalls läuft man Gefahr, einen Elfenring zu betreten, aus dem man womöglich erst nach hundert Jahren Elfenwahn entkommen kann.

Das berichtete der elfenkundige Oger Grafe, der dann auf dem Gebiet der Schöneberger Wallinen auch ein Lied vortrug, mit dem ihn diese Elfen bekanntgemacht hatten. Die Wallinen, zur Gattung der Säuselelben gehörig, leben gerne unter dem Efeu, der alte Burgwälle und Friedshofmauern überwuchert. Daher sitzen sie hier auf der Kirchhofmauer von St. Matthäus entlang der Monumentenstraße und singen und kämmen sich ihr dunkelmoosfarbenes Haar. Elfen sind übrigens nicht nur äußerst musikalisch, sondern auch sehr stolz auf ihr Haar.

Das gilt auch für die tagaktive Rabensteinelfe, die unter einem Obsidianstein auf dem Balkon der Wohnung Hochkirchstraße 1, 1. Hinterhof, 4. Stock rechts, lebt. Der Inhaber der Wohnung, die er freundlicherweise jeden Samstag für die Elfenfreunde öffnet, denen er darüber hinaus noch Kaffee und Kuchen offeriert, hatte sie mit dem Stein aus Island nach Berlin verpflanzt.

Mit Hilfe eines kurzen Diavortrags informiert Wolfgang Müller über den Herkunftsort der Elfe bei Landmannalaugar im Süden der Insel. In Island ist die Existenz von Zwergen und Elfen unbestritten. Selbst der neue Präsident Islands, Olafur Ragnar Grimsson, mit dem Wolfgang Müller sprach, konnte sich an Trolle erinnern, und das städtische Bauamt Reykjavik beschäftigt eine Elfenbeauftragte. Zu Erla Stefansdottirs Aufgaben gehört das Auffinden von Elfen- und Zwergenhäusern, die sie anschließend auf einer Elfenkarte verzeichnet. An den markierten Orten darf nicht mehr gebaut werden, um nicht den Mißmut der Kobolde zu erregen.

Was in Island als eine Form des Umweltschutzes gelten mag, kann in Berlin nur eine Form der Kunstproduktion sein. Denn die völlig unesoterische Wahrnehmung der Elfen als MitbewohnerInnen unserer alltäglichen Lebenswelt ist außerhalb des Kunstkontextes eher unwahrscheinlich. Unser gewöhnlicher Alltag ist zu sehr mit grellen Reizen angefüllt. Dem Grummeln etwa der Gras- und Beetzwerge, die am Grimmschen Grab anzutreffen sind, fehlt da die direkte Durchschlagkraft. Die trotzige Mittelbarkeit der Elfenbegegnung, oder anders gesagt, die unmögliche, sofortige Befriedigung unserer Neugierde entzückte aber gerade die Dame in der Pelzmütze, wie sie bekannte. Brigitte Werneburg

Bis auf weiteres: Samstag 14 Uhr, Langenscheidt- Ecke Crellestraße, Schöneberg. Unkostenbeitrag 10 Mark, darin inbegriffen: Elfenkarte, Kaffee und Kuchen