Toleranz? – Nein danke!

„Es ist nicht wichtig, ob in Deutschland Gebetsrufe vom Minarett geduldet werden oder nicht.“ Ein Pläydoyer für die Nächstenliebe  ■ Von Prof. Dr. Hüseyin Hatemi

„Toleranz“ ist in unserem Jahrhundert zu einem der meistgebrauchten Modewörter geworden. Viele begreifen sie jedoch nie als eine Selbstverständlichkeit der Nächstenliebe. In ihrem eigenen „Wortschatz“ ist „Toleranz“ nur eine Art „Duldungspflicht“, die ihnen von den äußeren Umständen aufoktroyiert wird, die aber niemals aus dem Herzen kommt. Das Wort hat denselben kalten Beigeschmack wie etwa „Waffenstillstand“. Toleranz ist in Wahrheit eine Scheintugend der Schwachen oder der Opportunisten.

Jesus war, wie die Bergpredigt zeigt, nie dieser Meinung. Die Muslime, die zur Zeit in Deutschland leben, sind auf der Seite Jesu. Sie lieben Jesus als einen Gesandten Gottes und sind bereit, zusammen mit den Christen nach einer perfekten Gerechtigkeit auf dieser Erde zu streben. Ist das nur ein leeres Gerede von mir?

Ich meine nein, und ich denke dabei an die islamische Geschichte: Viele der ersten Muslime hatten vor den Gewalttätigkeiten der Mekkaner in einem christlichen Land, in Äthiopien, Zuflucht gefunden. Und umgekehrt spricht der Koran von der Liebe, wenn es um die Christen geht, und nicht von einer mürrischen Toleranz: „Du wirst sicher finden, daß unter ihnen diejenigen, die den Gläubigen in Liebe am nächsten stehen, die sind es, welche sagen: Wir sind Christen. “

Der damalige Herrscher von Äthiopien gehörte zu diesen Christen – auch Goethe, als er im 19. Jahrhundert schrieb: „Wenn Islam Gott ergeben heißt/ In Islam leben und sterben wir alle“ (West-Östlicher Diwan, Hikmet Nameh). Unter unseren Zeitgenossen und -genossinnen können wir viele Beispiele für solche Christen nennen, die uns nicht nur tolerieren, sondern gleichzeitig lieben können.

Warum existiert heute statt Liebe eine Mauer aus Mißverständnissen und Vorurteilen zwischen Muslimen und Christen? Die Schuld daran ist beidseitig, aber man sollte einräumen, daß die Nichtmuslime zuerst mit dem Bau dieser Mauer begonnen haben. Am Anfang des 18. Jahrhunderts behauptete man in London ganz kategorisch, daß der Islam nichts mit Zivilisation zu tun hätte und daß er im Verlauf der Geschichte mit Schwert und Feuer die Werke der Zivilisation zerstört hätte. Diese Propaganda hatte zweierlei Folgen: Erstens haben die Intellektuellen im Morgenland, die sowieso unter dem westlichen Einfluß standen, eine gewisse Abneigung gegen den Islam und einen starken Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Westen entwickelt. Zweitens haben auch die Traditionalisten selbst dieses falsche Bild vom Islam als eine Realität akzeptiert, und sie haben es zugleich gerechtfertigt.

Diese Mauer aus Vorurteilen und Mißverständnissen zwischen Christen und Muslimen müssen wir abreißen. Der Koran fordert die Christen zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit im Rahmen der göttlichen Liebe und der daraus entspringenden Nächstenliebe auf – seit der Koranverkündung: „Sprich: O ihr Leute des Buches, kommt her zu einem zwischen uns und euch gleich angenommenen Wort: daß wir Gott allein dienen und Ihm nichts beigesellen, und daß wir nicht einander zu Herren nehmen neben Gott.“ Diese ausdrückliche Aufforderung hat erst nach 1.400 Jahren nach seiner Verkündung im zweiten Vatikanischen Konzil ein Echo gefunden, bedauerlicherweise jedoch war dieses Echo nach dem Ableben von Papst Johannes XXIII (Papa Roncalli) wieder verschwunden. Papa Roncalli hatte als Vertreter des Vatikans in meiner Stadt, nämlich in Istanbul, gelebt und selbst erfahren, daß die Toleranz in der Türkei eine religiöse Selbstverständlichkeit ist und daß Christen und Muslime an denselben und einzigen Gott glauben, der im Morgenland Allah heißt. Er hatte empfohlen, in kirchlichen Zeremonien in der Türkei Gott als Allah auszusprechen.

Meiner Ansicht nach ist es nicht wichtig, ob in Deutschland Gebetsrufe vom Minarett „geduldet“ werden oder nicht. Ich brauche diese mürrische Toleranz nicht. Gleichwohl ist es bedauernswert, wenn ich höre oder lese, daß „die Christen mit Muslimen keine Gemeinsamkeiten, keinen gemeinsamen Gott“ hätten.

Gott sei Dank teilen nicht alle deutschen Christen dieses Vorurteil, und für uns bedeutet der Islam die allen gemeinsame Religion, deren Botschafter Abraham, Moses, Jesus und der letze Gesandte waren. Deswegen ist „Toleranz“ für uns kein Waffenstillstand, sondern eine Selbstverständlichkeit. Im Naturrecht besteht kein Gegensatz der Reziprozität, sondern nur die Universalität und Allgemeingültigkeit der Grundsätze, die die Menschenrechte gewähren und schützen. Der Islam hat und wird diese Auffassung des universellen Naturrechts vertreten. In der richtigen Naturrechtslehre sind die Rechtsnormen auf dem Naturrecht begründet und infolgedessen auch niemals zu relativieren. Das Gleichheitsprinzip der Gerechtigkeit, das im Bereich der Menschenrechte keine Ausnahmen und Diskriminierungen kennt, ist mit der doppelten Moral der Rechtspositivismen nicht zu vereinbaren.

Was ist aber mit dem Heiligen Krieg? Die Antwort des Koran ist ganz einfach: Es besteht kein dauerhafter Kriegszustand mit den Andersgläubigen. „Es gibt keinen Zwang in der Religion.“ Der Krieg wird nur dann gerechtfertigt und „heilig“, wenn er durch das Notwehrprinzip des Naturrechts gerechtfertigt ist. Yunus Emre, unser lieber Mystiker, hatte keine mürrische Duldung als Toleranz vorgeschlagen, als er die Nächstenliebe so formulierte: „Wir haben gern alle Geschöpfe/ Gott dem Schöpfer zuliebe!“

Wir erwarten von der deutschen Seite eine Nächstenliebe, die aus dem Herzen kommt und die die Tradition abendländischer Weiser wie Franz von Assisi fortsetzt. Ist die Nächstenliebe durch die provisorische Scheintoleranz der Neuen Weltordnung ersetzbar? Niemals. Und nein danke! Trotzdem werden wir unsere Mitmenschen nicht dulden, sondern gernhaben, weil diese Stellungnahme eine natürliche Folge unserer Weltanschauung ist. Da es nicht um einen „Zug um Zug“-Fall geht, wird eine Nichterfüllungseinrede gar nicht erst in Frage kommen. Kant sei gegrüßt von uns!