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Moskaus Rechnung geht nicht auf

Obwohl Rußland im dritten Quartal des vergangenen Jahres erheblich mehr Steuern als zuvor einnahm, sind die Kassen leer. Es wird zuviel und planlos ausgegeben  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Eine Rücknahme oder Überarbeitung des Gesetzes halten wir für dringend erforderlich“, appelliert der Verband der russischen Frachtschiffer aus Murmansk an Premierminister Wiktor Tschernomyrdin. Rußland hat soeben eine Grenzsteuer eingeführt. Verbandsvorsitzender Matjuschenko macht eine Rechnung auf. Ein Frachter mit einer Ladung von 18.000 Tonnen und 25 Mann Besatzung müßte für eine Tour rund 80.000 Mark Grenzsteuer entrichten. Das Steueraufkommen der Schiffer würde sich nochmals um vierzig Prozent erhöhen. „Welches Unternehmen kann unter solchen Bedingungen überleben?“ fragen die Seeleute. Desgleichen klagen die Fuhrunternehmen. Fahren sie einen Gewinn von 65 Millionen Mark ein, müssen sie darauf – theoretisch – 120 Millionen Mark Abgaben entrichten. Theoretisch, weil die Steuer vom Zoll eingezogen werden soll, der sicher mit sich reden läßt. Die Tageszeitung Iswestija nannte die Akzise denn auch „Taschengeld“ für Grenztruppen. In deren Budget für das laufende Jahr klafft ein Loch von 3,6 Billionen Rubel, klagte ihr Chef General Nikolajew, der die neue Abgabepflicht begrüßt. Schließlich ist sie ein Mittel zu unbürokratischer Selbsthilfe.

Sogar einfache Bürger – außer im kaukasischen Steuerparadies Inguschetien – sollen zur Kasse gebeten werden, obwohl sich die Bestimmung nicht mit der Verfassung deckt, die jedem russischen Bürger freie Ein- und Ausreise garantiert. Doch das scheint nebensächlich. Dem Staat fehlt Geld, frische Töpfe müssen angezapft werden.

Rußlands Steuerpolitik ist seit Beginn der Reformen erratisch. Wer zahlt, wofür, wieviel und an wen? Kritiker bemängeln zu Recht, das Steuerrecht sei undurchsichtig, unfair, in seiner ständigen Renovellierung nicht voraussagbar, kurzum, es erdrücke den Steuerzahler. Kein Wunder, wenn flüchtet, wer kann. Im ersten Halbjahr 1996 fielen die Staatseinnahmen so dramatisch, daß der Internationale Währungsfonds die Auszahlung der zugesagten Tranche verschob. Seit Herbst läuft eine Kampagne, die den säumigen Steuerzahlern an den Kragen geht. In den Medien ruft die Steuerpolizei dazu auf, den Obolus zu entrichten. „Wollen Sie keine effektive Gesundheitsversorgung und qualifizierte Ausbildung für Ihre Kinder?“ Ausbleibende Löhne und Schulden der Staatskasse werden mit der niedrigen Zahlungsmoral der Bürger begründet. Das ist plausibel, doch es deckt sich nicht ganz mit der Wirklichkeit. Moskaus Filiale des Carnegie- Zentrums kam nach eingehender Analyse zu dem Ergebnis: „Zweifel gegenüber der offiziellen Version sind durchaus angebracht.“

Liegen die nominalen Einnahmen niedriger als im Vergleichszeitraum des Vorjahres, hängt das in erste Linie mit der erfolgreichen Inflationseindämmung zusammen. Darüber hinaus wurden 1996 diverse Ausfuhrzölle abgeschafft, die im Vorjahr immerhin allein schon mehr als ein Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausmachten. Die vermeintlich geringeren Einnahmen 1996 lassen sich nicht auf die mangelnde Disziplin der Steuerpflichtigen zurückführen. Im Gegenteil, das dritte Quartal 96 zeigte einen erheblichen Zuwachs an Mehreinnahmen: Bei der Einkommensteuer stiegen sie von 1,9 auf 2,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, bei der Mehrwertsteuer von 5,3 auf 6,5 Prozent, während der Staat bei der Vermögenssteuer das Doppelte abkassierte. Die Steuereinnahmen im dritten Quartal wuchsen phänomenal. Woran liegt das? Experten schreiben den Erfolg den Finanzbehörden zu, die seit Herbst wesentlich effektiver arbeiten. Darüber hinaus ein delikates Detail: Anatoli Tschubais, der ehemalige Privatisierungsminister, übernahm nach Jelzins Wahlsieg die Leitung des Präsidentenstabs. Er soll sich der leidigen Steuerangelegenheit gleich gewidmet haben... Die wachsende Schuldenlast zahlreicher Unternehmen gegenüber dem Staat erklärt sich nicht aus fälligen Steuern, sondern aus den drakonischen Strafen, die verhängt wurden. Wieso steht Rußland in einer Haushaltskrise, wenn soviel Steuern aufgebracht wurden wie nie zuvor? Es wird mehr ausgegeben. Präsident Jelzin hat während des Wahlkampfes einfach verteilt. Armee und Verteidigung erhielten ein Prozent des BIPs dazu, der Bildungsbereich 0,4 Prozent, Gesundheitswesen und Sozialbereich je 0,3 Prozent.

Gleichzeitig stiegen die mittleren Gehälter um ein Viertel im Verhältnis zum Existenzminimum. Die Löhne in allen staatlichen Einrichtungen eilen dem Preisindex erheblich voraus. Renten legten um 20 Prozent des Existenzminimums zu, während die Untergrenze der Rente um 86 Prozent angehoben wurde. Selbst eine Volkswirtschaft mit schnellem Wachstum dürfte ein derartiges Tempo nicht verkraften. Ein Defizit ist programmiert. Nur: Mehr Steuern lassen sich nicht abpressen, sonst nimmt der Staat in diesem Jahr garantiert weniger ein.

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