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Europa zwischen Manchester und Petersburg

Europäische Geschichte im Taschenbuchformat. Die neue, von Wolfgang Benz im Fischer Verlag herausgegebene Reihe will die gemeinsame Vergangenheit zeigen. Dies geht auf Kosten des Besonderen. Beispiel: Die Metropolen  ■ Von Hartmut Kugler

Eine neue Reihe drängt der Fischer-Verlag in die Taschenbuchregale: „Europäische Geschichte“ steht weiß auf euroblauem Schildchen, etwas verschüchtert, mehr Signatur als Design; doch immerhin auch die Fischer-Fische sind euroblau beleckt. Der Reihenprospekt zeigt Willen zum geschlossenen Programm. Achtundfünfzig Autoren stehen schon fest, ihre Buchtitel auch, nur geschrieben müssen die meisten noch werden: Verbucht sind einstweilen sieben Titel unter „Alte Geschichte“, vierzehn unter „Mittelalter“, fünfzehn unter „Frühe Neuzeit“, siebenundzwanzig unter „Das 19. und 20. Jahrhundert“. Die Mitgliedsliste des Wissenschaftlichen Beirats versammelt alte Meister, die Autorenliste mischt junge Draufgänger dazu.

Deren Dienstorte signalisieren Westsicht. Der Osten ist nur mit dreimal Warschau und einmal Budapest dabei, die anderen sitzen rechts und links vom Atlantik, Bochum bis Princeton. Als Gesamtherausgeber fungiert Wolfgang Benz, Berliner Geschichtsprofessor und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung; neben ihm sind für das Konzept die Historikerin Rebekka Habermas und der Verlagslektor Walter H. Pehle verantwortlich. Benz war schon als Autor an der 36bändigen „Fischers Weltgeschichte“ beteiligt, in deren Tradition die neue Unternehmung sich ausdrücklich stellt.

Fischers Weltgeschichte war seinerzeit der Vision einer Weltinnenpolitik verpflichtet gewesen, lang bevor die Wirtschaft mit ihren neuen Aktien der „Globalisierung“ an die Börse ging. Die neue Reihe verpflichtet sich der Idee einer europäischen Innenpolitik. Die ist zwei Nummern kleiner und hat deshalb weniger Science-Appeal; auch spricht sich der Ausdruck „Europäische Geschichte“ nicht so flüssig wie „Weltgeschichte“. (Warum wurde das Kind nicht „Europageschichte“ getauft?)

Doch Europa steht auf der Tagesordnung. Die Gegenwart der Europäischen Union braucht eine Vergangenheit, wenn sie eine Zukunft haben will, das ist klar. Sie braucht gemeinsame Erinnerung, braucht Erbengemeinschaft. Die omnipräsente Geld- und Geldmangelwirtschaft stiftet keine Identität, der Mensch lebt nicht vom Arbeitsplatz allein. Deshalb wird in Fischers neuer Reihe die „Wirtschaft“ nur einer neben anderen Parametern sein.

„Geschlechterbeziehungen“, „Staat“, „Soziale Gruppen“, „Religion“, „Wissenschaft“, „Mentalitäten“, „Kultur“, sind von den Programmgestaltern gleichrangig daneben plaziert. Ein nach außen offenes Kategorienangebot. Der Verdacht postmoderner Beliebigkeit verbietet sich nur deshalb, weil er heute beliebig oft strapaziert wird. Positiv zu vermerken: Im Reihenprogramm ist die Feldherrengeschichtsschreibung der Kanonenschläge und Friedensverträge zugunsten sozialgeschichtlicher Parameter zurückgetreten.

Das Publikationstempo ist hoch. Acht Bände sind seit Oktober 1996 bereits erschienen. Deren bunte Thematik läßt schwer ermessen, ob sich ihre Reihenfolge dem Einfall der Herausgeber oder dem Zufall des Fertigwerdens verdankt.* Die Autoren wurden auf die Obergrenze von zweihundert Druckseiten festgelegt. Mit dem Kunstgriff der „Anhänge“ konnten sie sich ein wenig darüber hinwegschummeln. Leserfreundlich sollten sie schreiben, Laien und Fachkollegen gleichermaßen fesseln, hochkompetent und auf dem neuesten Forschungsstand sowieso. Und nicht in die eingefahrenen nationalen Schreibweisen zurückfallen, in vielen Ländern zu Hause sein, die europäische Dimension suchen und finden. Und nicht mit Bildern und Tabellen geizen. Der altneue Verlegertraum, eine Herde eierlegender Wollmilchschweine in Taschenbuchform. Wie sieht so ein Wunderwerk aus der Nähe aus?

Die Metropole, Utopie des modernen Lebens

Durchgeblättert sei Clemens Zimmermann, „Die Zeit der Metropolen. Urbanisierung und Großstadtentwicklung“. Der Autor, Privatdozent für Geschichte in Heidelberg, hat seinen Gegenstand in sechs Kapiteln bewältigt. Einleitend berichtet er von der „Geburt“ der europäischen Großstadt (Historiker sind bei ihren Titelfindungen oft geburtenfreudig), am Ende sieht er sie als Inbegriff des „modernen Lebensraums“ konstituiert. Die dazwischenliegenden vier Kapitel präsentieren vier Beispielstädte: Manchester, St. Petersburg, München, Barcelona. Warum diese vier? Warum nicht vier andere, oder sechs oder acht? Eine unfaire Frage. Auswählen ist legitim, auswählen ist Programm.

Das Programm der Industrialisierung hat Manchester die Spitzenposition beschert. Wir erinnern uns an den Manchesterkapitalismus, jenen Kapitalismus in seiner enthemmtesten Form. Friedrich Engels' „Lage der arbeitenden Klasse in England“, die Horrorshow, das war Manchester. Zimmermann sagt nicht „Kapitalismus“, sondern „Liberalismus“. Auch recht.

Aus Manchester dampfte der Fortschritt, die erste Eisenbahn 1830 nach Liverpool. Fabrikschornsteine statt Kirchtürme sind die neuen Stadtsignaturen. Die Altstadtbezirke werden zu Slums, in denen sich Hunderttausende Fabrikarbeiter drängen, die besseren Kreise weichen in die Vorstädte aus, die Baumwollbarone verschaffen sich Adelstitel und ziehen aufs Land.

In der Entmischung der Stadtbevölkerung sahen zeitgenössische Gesellschaftsanalytiker eine soziale Gefahr. Was sie nicht sahen, war die Herausbildung eigener, neuer Gemeindestrukturen innerhalb der Fabrikslums; die extreme Kompression der Arbeits- und Wohnverhältnisse erzwang Arrangements einer Vielzahl von Menschen und Interessen auf engstem Raum und schuf damit Grundmuster einer Urbanität, die überreich an Tempo, Vitalität, Durcheinander und Nervosität war, der es nur freilich sehr an Eleganz und Luxus fehlte. Mit Eleganz und Herrschergeste fing auf der östlichen Seite Europas St. Petersburg gleich an, aus dem Nichts und den Sümpfen heraus seit 1713 in wenigen Jahrzehnten zum repräsentativen Verwaltungszentrum eines Großreiches geworden. Urbanität von oben verordnet und den Boulevards eingeprägt, erst spät griffen die Industrieviertel ins Umland aus.

Auch München, der dritten Beispielstadt, war der Wille zur Metropole durch königliche Bauplanungen längst eingepflanzt, bevor die Industrieschlote sich anlagerten. Das taten sie gegen den hinhaltenden Widerstand eines Bürgertums, das lieber in einer Kunst als in einer Industriemetropole leben wollte.

Erst bei Barcelona, dem vierten Beispiel, rückt die Industriemaschinerie wieder großstadtschaffend ins Bild, denn schon Mitte des 19. Jahrhunderts galt die Stadt als „Manchester Spaniens“.

Das Unangepaßte wird zum Unzeitgemäßen

Vier sehr verschiedene Großstadttypen. Allen gemeinsam ein Defizit an kommunaler Konzeption. Die Industrie zog die Massen in die Stadt. Dem Organisationstalent der entfesselten Privatwirtschaft, so scheinen die Beispiele zu lehren, darf man europaweit nicht viel zutrauen. Der Massensiedlung scheint ein quasi naturgegebenes Gesetz der Entmischung eingegeben, die Reichen grenzen sich von den Armen ab, die Wichtigen von den Unwichtigen, die Mächtigen von den Machtlosen. Villen hier, Slums da.

Wo stadtbauästhetische Kriterien beigezogen wurden, stammten sie aus vorindustriellen Epochen. Die unter Faustrecht geschaffene Trümmerlandschaft konnte kommunale Planung erst nachträglich mit Heftpflastern versorgen. Auf dem Umweg über die Notwendigkeit seuchenpolitischer Maßnahmen ergatterte die Stadtverwaltung eine gewisse raumordnende Kompetenz.

Zimmermanns vergleichende Städtebetrachtung ist einigermaßen instruktiv, im Guten wie im Unguten. Sie zeigt, wie der europaweite Trend zum großindustriellen Ballungsraum regional und lokal ganz unterschiedlich umgesetzt worden ist. Sie läßt eine Kultur der Differenz, eine Kultur des Interessanten und des Besonderen erahnen, die Resolutionen langer Kämpfe zwischen lokalem Eigensinn und universal gestikulierender Modernität. Nur leider sind die Kostbarkeiten des Besonderen nicht das, worauf es dem Autor ankommen darf. Ihm liegt daran, die europaweit gemeinsamen Nenner zu propagieren. Da wird ihm das Unangepaßte rasch zum Unzeitgemäßen, gleichbedeutend dem Unmodernen, und was unmodern ist, hat sein Recht auf Zukunft verloren; jedenfalls das Recht auf eine vermeintlich europagerechte. Denn Europäisierung heißt Modernisierung heißt Normierung. In diese gefährliche Gleichung scheint Zimmermanns Studie hineinzuschliddern.

Seine beiden Rahmenkapitel feiern Urbanität als den restlosen Triumph einer Modernität, die von sämtlichen Plakatwänden dasselbe Zahnpastalächeln abstrahlt und der jede Verschiedenheit nur auf der Zeitskala des Früher oder Später registrierbar geworden ist. Das Andere ist das Alte, und das Alte muß weg, früher oder später. Eintopfmetropole als Geschichtsziel. Alle Macht der Euronorm.

Vereinheitlichung ist nicht das Geschichtsziel

Dieser Schluß ergibt sich weder zwingend aus der Sache noch aus der Intention des Autors. Er droht als Konsequenz aus dem Zwang zur Prägnanz und Übersichtlichkeit des Taschenbuchformats. Insofern hat man es hier mit einem Risikofaktor der gesamten Buchreihe „Europäische Geschichte“ zu tun. Die Autoren der Reihe müssen Schneisen schlagen, europäische Perspektiven zeichnen, das ist ihre Aufgabe. Eine legitime Aufgabe und eine nötige zweifellos: den Partikularinteressen, den engstirnigen Nationalismen zumal, die Gemeininteressen entgegenhalten. Aber gewiß doch nicht so, daß die Norm das Ungenormte vernichtet.

Die Europäische Union schickt sich an, auf die eine oder andere Art ein Imperium zu werden; es wäre nicht das erste der Weltgeschichte. Von den vergangenen Imperien weiß man, daß sie so lange und so gut funktionierten, wie sie Gesamtinteressen und Partikularinteressen in einem energieproduzierenden Spannungsverhältnis halten konnten. Wurde die Spannung zu groß oder zu gering, dann gab es Explosionen oder Implosionen, und mit dem Imperium war es aus. Die neue Buchreihe scheint ähnliche Chancen und Risiken vor sich zu haben. Europäische Geschichtsschreibung soll eine europäische Normalität werden, sicher. Aber nicht im Dienste allgegenwärtiger „Vereinheitlichungen“ als Geschichtsziel. Wie wäre es mit einer Abteilung „Krähwinkel oder die Geschichte des Besonderen“?. Denn Fischers neue Reihe ist noch jung und gelenkig genug, dem Geist der Bürokratisierung zu entgehen. Hoffentlich gelingt es.

Clemens Zimmermann: „Die Zeit der Metropolen. Urbanisierung und Großstadtentwicklung“. Bd. 60144, 192 Seiten, 18,90 DM

Hartmut Kugler ist Professor für die Literatur des Mittelalters an der Universität Erlangen

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