: „Vielseher reagieren aggressiv“
■ Helmut Lukesch, Psychologieprofessor in Regensburg, über die Wirkungen von Gewaltszenen in Filmen auf Kinder und Jugendliche
taz: Die gängige Meinung lautet, daß man nicht genau wisse, welche Wirkung Horrorfilme auf Kinder und Jugendliche haben.
Helmut Lukesch: Diese Position hatte ich früher auch. Als wir 1985 mit unseren Untersuchungen anfingen, dachte ich, die Klagen der Lehrer über gewaltbereite Kinder seien bloß Jammertiraden zur Beschönigung der pädagogischen Unfähigkeit. Deshalb war ich überrascht, daß wir durchgängig andere Ergebnisse bekamen: Der Zusammenhang zwischen Konsum von Gewaltszenen in Filmen und der persönlichen Gewaltbereitschaft hat sich immer wieder deutlich gezeigt. Und die „Katharsis-These“ – daß Gewaltdarstellungen zu einer „Läuterung“ und Besserung des Zuschauers führen (siehe nebenstehenden Artikel) – gilt mittlerweile als eine der am besten widerlegten Hypothesen der Psychologie.
Wie stellt man bei Jugendlichen erhöhte Gewaltbereitschaft fest?
Natürlich nicht, indem man sie fragt, ob sie sich nach einem Horrorvideo aggressiver fühlen. Einen Alkoholiker fragt man ja auch nicht, ob er noch Autofahren kann, wenn er aus dem Hofbräuhaus kommt. Wir haben zum Beispiel viele Interviews mit Jugendlichen gemacht und immer wieder ähnliche Antworten bekommen. Einige erklärten, solche Videos würden sie so aufregen, daß sie am liebsten rausgehen würden; einer sagte, er müsse solchen Filmen aus dem Weg gehen, sonst hätte er ständig Ärger. Manchmal hört man auch Kritik an „unrealistischen“ Szenen, weil die so nicht „funktionieren“ könnten. Oder Jugendliche suchen nach Rechtfertigungen für die Täter – etwa weil diese von den Opfern zur Gewalt „gezwungen“ worden seien. Die Reaktion hängt stark davon ab, wieviel Videos jemand sieht. Wer nur gelegentlich Horrorfilme anschaut, wird eher verunsichert und bekommt Angst. Die „Vielseher“ dagegen reagieren aggressiv und mit einem Gefühl der Stärke. Dieses Gefühl scheint wichtig für die „Vielseher“ zu sein: Gerade weil sie sonst häufig in der Opferrolle sind, weil sie in der Realität oft von Gewalt bedrängt werden, kann ein Horrorvideo eine der wenigen Möglichkeiten sein, Macht zu erleben, indem sie sich mit Tätern identifizieren.
Können Eltern den Einfluß von Horrorfilmen ausgleichen?
Ich denke, daß ein Jugendlicher kaum zum „Vielseher“ wird, wenn er in einer intakten Familie aufwächst und das Gefühl hat, von seinen Eltern ernstgenommen zu werden. Wenn aber solche Filme für einen Jugendlichen die einzige Möglichkeit sind, Stärke zu erleben, ist das bereits eine Familiensituation, in der die Eltern wenig ausgleichen werden.
Führen Sie die Gewalttat des Jungen auf Horrorfilme zurück?
Das ist schwierig zu beurteilen, ohne den Jugendlichen persönlich genau zu kennen.
Der Zusammenhang von Medienkonsum und Gewaltbereitschaft ist nicht so eng, daß jeder automatisch den Horrorfilm nachahmt, den er gesehen hat. Gewaltvideos sind auch nicht die einzige Quelle von Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft. Denkbar ist, daß viele andere Konflikte vorhanden waren, auf die der Junge mit Gewalt reagiert hat. Aber natürlich kann es sein, daß er die Figur des „Jason“, der im Film zum Beispiel ein Mädchen erschreckt und in den See reißt, so faszinierend fand, daß er das in die Realität umsetzen wollte. Interview: Felix Berth
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen