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Der Mann von nebenan

■ Frau wegen Totschlag vor Gericht, weil sie ihren Vergewaltiger erschossen hat

Der Mann war ein Bekannter aus der Nachbarschaft. Er starb am 18. Juli 1996 in Harburg auf offener Straße. „Ich habe ihn erschossen“, bestätigt die 39jährige Frau mit Nachdruck. Dann fügt sie mit leiser Stimme hinzu: „Es war vor sechs Jahren. Da hat er mich vergewaltigt.“ Die Raumpflegerin muß sich seit gestern wegen Totschlags vor dem Hamburger Landgericht verantworten.

Am Tattag habe sie wie immer gegen fünf Uhr morgens mit dem Bus zur Arbeit ins Krankenhaus fahren wollen, erinnert sich die 39jährige. An dem betreffenden Morgen hatte sie kein Brot für die Frühstückspause dabei, sondern eine geladene Pistole. Sie habe ihrem Leben ein Ende setzen wollen, sagt sie, „ich konnte es nicht mehr aushalten“. Doch an der Bushaltestelle sieht sie ihren Peiniger auf der Straßenseite gegenüber und schießt. An mehr kann sie sich nicht erinnern.

Am Abend zuvor hatte es wieder mal Streit gegeben. Ihr Ehemann hatte sie seit Jahren mit der Frage gequält, ob sie ein Verhältnis mit dem Nachbarn – einem 59 Jahre alten Rentner – habe. Das hatte sie stets verneint, auch als sie ihre Arbeit bei Beiersdorf verlor, weil sie sich an den Maschinen nicht mehr konzentrieren konnte. „Ich hatte zwei Unfälle im Betrieb, weil ich mit den Gedanken weit weg war“, so die Angeklagte. „Ich habe immer alles runtergeschluckt.“

An diesem Abend will sie ihrem Mann erstmals von der Vergewaltigung erzählt haben. „Ich hatte Angst, daß er mich verläßt und die Kinder mitnimmt“, sagt sie. „So ein Leben konnte ich mir nicht vorstellen.“ Außerdem soll der Rentner in der Nachbarschaft „schreckliche Bemerkungen“ über seinen Besuch damals in ihrer Wohnung gemacht haben. Begegneten sie sich zufällig auf der Straße, habe der 59jährige sie regelmäßig bedroht, um ihr Schweigen zu erzwingen.

Nach dem tödlichen Schuß ging die Frau nach Hause und schrieb eine kurze Notiz für ihre Familie, bevor sie Schlaftabletten nahm: „Es tut mir leid, daß ich das alles so lange mit mir herumgetragen habe.“ Erst im Krankenhaus kam sie wieder zu sich. Der Prozeß wird fortgesetzt. lian

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