: Mythos bei der Arbeit
■ Der hohe Ton, von seiner heroischen Pose befreit: Christa Wolfs Erzählung "Kassandra" als musikalisches Monodrama mit Anne Bennent im Hebbel Theater
Hätte jemand 1983, als Christa Wolfs Erzählung „Kassandra“ erschien, das Ende des Kalten Krieges in Europa vorausgesagt, man hätte ihm so wenig glauben wollen wie der trojanischen Seherin. Der militärische Konflikt, auf den die Autorin in einem Arbeitstagebuch als alltägliche Erfahrung parallel zu ihrer Antikenforschung verwies, war das atomare Wettrüsten der Großmächte. Darin erkannte sie die Fortsetzung männlicher Logik wieder, deren Wahnsinn und Selbstbetrug nur die Nüchternheit einer Kassandra zu durchschauen vermochte.
Ist es wirklich erst 15 Jahre her, daß mit Wolfs „Kassandra“ endlich ein Schlüssel zur Überwindung patriarchaler Geschichtsschreibung und jeglicher ideologischer Täuschung gefunden zu sein schien? Kurz nur hielt die feministische Euphorie an. Was blieb, war die Lust, den Mythos bei der Arbeit zu beobachten und die immer wieder neue Instrumentalisierung der Götter und Helden als Legitimation im Kampf um die Macht zu verfolgen.
Der von Musik begleitete Monolog, in den der Schweizer Komponist Michael Jarrel die Erzählung übertrug, löst den Kassandra- Stoff aus seiner Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte. Zuerst in Paris 1993 aufgeführt, folgte nun die deutsche Premiere mit dem Ensemble Modern und Anne Bennent im Hebbel Theater. Düster geladene Klangflächen drängen die kurze Erzählung von einem langen Krieg zusammen.
„Vor den Bildern sterben die Worte“, sagt Kassandra, und immer dann, wenn ihr angesichts der schrecklichen Erinnerungen die Sprache auszugehen scheint, zieht die Musik sie wie ein Strom innerer Vorstellungen weiter, bis sie wieder Worte findet. Im Sammeln der instrumentalen Stimmen, die aus der Vereinzelung mühsam zusammenfinden und dann wieder abbrechen, im bedrohlichen Anschwellen und plötzlichen Verstummen der Musik ist vor allem die Panik des Krieges gegenwärtig. Es gibt keine Melodie, kein Leitmotiv, dem Kassandra folgen könnte. Ihr Verhältnis zu den 19 Stimmen der Streicher, Holzbläser und des Schlagzeugs spiegelt vielmehr Kassandras Einsamkeit im Volk der Troer, die sich gegen ihre Voraussagen mit Wunschbildern der eigenen Stärke rüsten.
Die Erzählung setzt vor Mykene ein, vor dem Haus der Klytämnestra, die Kassandra als ihre Mörderin erkannt hat. Aber Anne Bennent, die gemeinsam mit Christoph Marthaler auch die Regie führte, spielt nicht die Todesangst der Kriegsgefangenen, die mit dem Faden der Erinnerung die letzten Minuten vor dem Tod zu dehnen versucht. Sie interpretiert den Text nicht als dramatische Vorlage, sondern als epische Erzählung. Sie ist von Anfang an die Nüchterne, Sachliche, die sich vom Rausch, Furcht und Hoffnungen der anderen nicht anstecken läßt. Alles Schillernde, Drohende, Widersprüchliche ist allein Sache der Musik.
Mit dieser Zurückhaltung nimmt Anne Bennent dem hohen, gespannten Ton, den Wolfs Erzählung vom ersten Satz an prägt, etwas von seiner heroischen Pose. Das ist vielleicht gerade für die Berliner Aufführung wichtig: Denn mit der „Kassandra“ hatte Christa Wolf auch für ihre Rolle als Schriftstellerin eine neue Identifikation gefunden. Die Unfähigkeit der antiken Machthaber, mit der Wahrheit umzugehen, verführt wohl heute noch mehr als 1983 dazu, den Text als Parabel auf die Unfreiheit des Wortes in der DDR zu lesen. Doch dieser tagespolitischen Reduzierung der Erzählung entzieht sich die Bearbeitung.
Was zu kurz kommt, ist der Zweifel, die Suche nach dem Dritten zwischen Wahrheit und Lüge. Die Textfassung spielt zwar darauf an, doch ohne daß Kassandras Hinterfragen der Sprache selbst produktiv werden könnte. Es war eine der Stärken der Kassandra- Erzählung, auch noch die Grenzen ihres Wissens und die Bedingtheit ihrer Sprache mit beschreiben zu können und sich nie als der Weisheit letzter Schluß auszugeben. Katrin Bettina Müller
Noch einmal heute, 20 Uhr, Hebbel Theater, Stresemannstraße 29
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