piwik no script img

Herrschaftsfreies Sonntags-Palaver

■ Kontinuierlicher Besucherschwund bei einem aktuellen Thema: Die Podiumsdiskussion zum Thema „Jugend und Gewalt“ im Schauspielhaus ließ die meisten Fragen offen

Die erste Besucherin ging schon nach einer Viertelstunde. Unter lautem Protest. Sie fühlte sich „betrogen“ von der Podiumsdiskussion, zu der das Bremer Theater gestern morgen eingeladen hatte. Thema: „Jugend und Gewalt“; Anlaß: die Produktion „Clockwork Orange“ nach Anthony Burgess' stark gewalthaltiger Gesellschaftsstudie aus den 60er Jahren, die derzeit im Schauspielhaus zu sehen ist. Zwölf Mark Eintritt zu nehmen sei auch eine Form von Gewalt, war dann im anfangs gut besuchten Schauspielhaus zu hören.

Auf der Bühne sollten sich zum Thema „Lebensgefühl der Jugendlichen“ äußern: Axel Janzen, Psychologe in der Jugendvollzugsanstalt Blockland; Frank Winter, Psychologe beim Täter-Opfer-Ausgleichsprojekt im Bürgerhaus Vegesack und Freerk Huisken, Erziehungswissenschaftler an der Universität Bremen. Für das Theater auf dem Podium: Heiko Senst, der im Stück die enthemmte Hauptfigur spielt, Dramaturgin Marion Tiedtke als Moderatorin und „Clockwork Orange“-Regisseurin Christina Friedrich, die während der Proben „irgendwann die Kreativität des Bösen“ entdeckte.

Womit sie im selben Fahrwasser schiffte wie Frank Winter, der von der „Kreativität der Aggressivität sprach“ und daß alle Täter immer vorher Opfer gewesen seien: „Ohne Auflehnung gibt es keine gesellschaftliche Bewegung.“

Freerk Huisken steuerte altlinkes Gedankengut bei: Was unterscheide denn die offenbar bekifften Politiker, die Soldaten nach Bosnien schicken, von jugendlichen Gewalttätern? Nicht die Jugendlichen seien das Problem, sondern die Erwachsenen, die durch die Parolen „Ordnung“ und „Disziplin“ – tagtäglich von den LehrerInnen im Klassenzimmer ausgegeben – erst die Voraussetzungen dafür schafften, daß sich die Jugendlichen das gesellschaftliche Konkurrenzprinzip zu eigen machten: „Sieger bin ich nur, wenn ich andere zu Verlierern mache.“

Klassisch psychologisch versuchte es Blockland-Psychologe Janzen. Bei allen jugendlichen Gewalttätern sei die besondere Beziehung zum Vater auffällig – erst schlägt er zu, dann ist er weg.

Mit Thesen dieser Güteklasse brachte Janzen, genauso wenig wie die anderen Diskutanten, dem Publikum nichts Neues bei. Und das stete Rinnsal der Diskussionsflüchtlinge nicht zum Stillstand. Immerhin blieb unwidersprochen, daß es keine Zunahme der Jugendkriminalität gegeben habe; erst durch die starke Medienbeachtung sei Jugendgewalt zum Modethema geworden.

Wann man denn nun endlich über die Ästhetisierung von Gewalt spreche, wie sie in „Clockwork Orange“ ja stattfände? Und was denn das Theater damit bewirken wolle, ein solches Stück auf den Spielplan zu setzen? hieß es im Publikum. Das Theater könne nicht mehr als moralische Anstalt taugen, sagte die Dramaturgin, noch könne es gesellschaftspolitische Analysen liefern. Das Theater könne nur noch „berühren“. Christina Friedrich stimmte zu, das Publikum soll „eine körperliche Erfahrung“ machen. Und Intendant Klaus Pierwoß ergänzte aus dem Zuschauerraum: „Wir können nur darstellen.“

Schwung in die Diskussion kam erst, als aus jugendlichen Kehlen – die klare Minderheit – festgestellt wurde: „Harmonie macht schläfrig“ und Gewalt müsse zugelassen werden und sei aus dem Leben gar nicht wegzudenken. „Unerträglich“ sei es zudem, Gewalt nur als Unterschichten-Phänomen zu betrachten – wie es Frank Winter getan hatte. Und nur eine Stimme aus dem Publikum wagte es, in die sozialpsychiatrisch gefärbte und vom Verständnis für die Täter geprägte Diskussion eine andere Farbe zu bringen: „Ich möchte nicht das Opfer von Alex gewesen sein!“ Von Alex, dem Sadisten und Totschläger aus „Clockwork Orange“.

Wie denn die Jugendgewalt nun einzudämmen sei, verlangte es die Moderatorin nach mehr als zwei Stunden vom Podium zu wissen. Erziehungswissenschaftler Huisken glaubt, die Gewalt sei zwar ein Kontinuum in der Menschheitsgeschichte, doch die Lust an der Gewalt sei abstellbar, wenn sie nicht von den „Überlegenheits-Inszenierungen“ der Erwachsenen immer neu angestachelt werde. Frank Winter vom Täter-Opfer-Ausgleich glaubt, man dürfe sich nicht wundern, wenn „ein Drittel der Jugendlichen ausgegrenzt werden und die sich dann wehren“. Und Axel Janzen griff zu einem Sokrates-Zitat über die Jugend anno 450 v. Chr. Schon damals gab's Aufruhr und Pöbelei – alles schon mal dagewesen.

Zur Diskussion verhindert war leider Dagmar Gellert, Regisseurin des Dokumentarfilmes „Torfsturm“ über eine rechte Findorffer Jugendgang. Als verwerflich, weil unkommentiert wurde „Torfsturm“ gern gescholten. Dabei wird in dem Film mehr über Jugendgewalt klar als mit so manchem Kommentar auf dem Podium des Schauspielhauses. Zum Beispiel dem von Heiko Senst: „Wenn Tiere aggressiv sind, regt sich doch auch keiner auf.“ Alexander Musik

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen