„Stoiber? Kanzler!“

■ CSU-Ministerpräsident Stoiber begeistert Bremer CDU – mit falschen Zahlen und platter Demagogie

Es ist schwül im Ballsaal des Parkhotels. Über 3.000 Christdemokraten sind zum Neujahrsempfang der Bremer CDU gekommen. Dicht gedrängt stehen sie vor dem Podium und lauschen den Worten des bayrischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber (CSU). Hinter dem Mann, dem der Ruf vorausgeeilt ist, er wolle das kleinste Bundesland abschaffen, steht die Spitze der Bremer CDU: Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Elisabeth Motschmann fächert sich mit einem zusammengefalteten Stück Papier Luft ins Gesicht. Auf der Stirn von Wirtschaftssenator Hartmut Perschau perlt der Schweiß. Vize-Bürgermeister Ulrich Nölle und CDU-Landeschef Bernd Neumann verfolgen die Rede mit angespannter Miene. Die bange Sorge, daß ihr Ehrengast nicht den richtigen Ton treffen könnte, scheint ihnen ins Gesicht geschrieben.

Doch Stoiber trifft den Nerv der Bremer CDU. „Die Leistungsfährigkeit des deutschen Volkes, sie darf doch nicht überschritten werden“, ruft er der Menge zu. Tosender Applaus. „Richtig, richtig“, schreit ein älterer Herr im dunkelblauen Anzug, hebt den Arm und ballt die Hand zur Faust.

„Die Zuwanderung muß begrenzt werden – aus Portugal, Spanien, Italien...“, beschwört Stoiber die Christdemokraten. Die Bremer CDU klascht begeistert in die Hände – die nüchterne Tatsache, daß diese Länder zur EU gehören, fällt der euphorischen Stimmung zum Opfer.

Wenige Minuten zuvor hatte Stoiber noch gewarnt: „Die Republikaner oder die DVU sind als Protestpartei nach wie vor eine Gefahr. Es darf keinen Nährboden für neue nationalistische Rattenfänger geben. Unsere Aufgabe ist daher eine doppelte: Wir müssen mutig die notwendigen Reformen angehen und dabei streng auf den sozialen Konsens achten.

Die Kriminalität sei ein schlimmes Problem dieser Gesellschaft, 84 Prozent von 70.000 Beschuldigten seien Ausländer, behauptet der Ministerpräsident. „Ich bin nicht ausländerfeindlich. Aber man muß die Dinge doch beim Namen nennen“, schreit Stoiber. Donnernder Beifall. Die Statistik des Bundesinnenministeriums liest sich allerdings anders: Von insgesamt 2.118.104 Tatverdächtigen, die 1995 in Deutschland registriert wurden, sind 603.496 „nichtdeutsch“, wie es im Amtsjargon heißt. Das sind 28,5 Prozent. Seit 1993 ist die Zahl der ausländischen Beschuldigten um 5,1 Prozent gesunken. Besonders in der organisierten Kriminalität spielten Ausländer die Hauptrolle, führt Stoiber weiter aus. Laut Bundesstatistik werden den „nichtdeutschen Tatverdächtigen“ allerdings am häufigsten Straftaten gegen das Ausländergesetz (180.650) zur Last gelegt. Rauschgifthandel, -mißbrauch und -herstellung rangieren mit 3.982 Fällen deutlich hinter Urkundenfälschung (40.794). Von den 7.922 wegen „organisierter Kriminalität“ Tatverdächtigen sind 5.015 (63,6 Prozent) Ausländer.

Das Thema Kriminalität läßt Stoiber nicht los. Er kommt auf die „fürchterlichen Kindermorde in der letzten Zeit“ zu sprechen. Daß der mutmaßliche Mörder der zehnjährigen Kim aus einer gutbürgerlichen deutschen Familie kommt, will Stoiber nicht problematisieren, er hat ein anderes Feindbild: „In den 70er Jahren hat man die Psychologie der Täter analysiert. Die Opfer hat man vergessen“, ruft er der Menge zu. Die CDU jubelt.

Das „zentrale Problem in Deutschland“ aber sei die Arbeitslosigkeit, referiert der Ministerpräsident weiter. „Wenn die Arbeitgeber weiter als Ausbeuter dargestellt werden, muß man sich nicht wundern, wenn sich immer weniger selbständig machen“, mahnt Stoiber. „Aus dem Volk von Dichtern und Denkern ist ein Volk von Bremsern und Verhinderern geworden.“ Die Studie der Vereinsbank, die besagt, daß der „totgesagte Unternehmergeist quicklebendig“ ist, scheint Stoiber nicht zu kennen. Auch daß die Gewerbeämter in Deutschland mehr selbständige Unternehmer als je zuvor gezählt haben, weiß der Ministerpräsident offensichtlich nicht. 1995 wurden 528.000 neue Unternehmen angemeldet – 35.000 mehr als im Vorjahr. Doch was scheren einen bayrischen Ministerpräsiden die Fakten. Das Regieren ist mühsam genut – vorallem mit den Sozialdemokraten. Und auch den Grünen mißtraut er. „Die Grünen regieren mit dem Segen der Kommunisten in Moskau“, ruft Stoiber. Die CDU applaudiert.

Umringt von Leibwächtern und Seite an Seite mit Bernd Neumann bahnt der Ministerpräsident sich den Weg durch die Menge. Überall strecken sich ihm Hände mit den Einladungskarten für den CDU-Empfang entgegen. „Herr Stoiber, ein Autogramm bitte.“ Stoiber lächelt, unterschreibt unzählige Karten und sonnt sich im Lob. „Sie sind großartig, danke für die Rede.“ „Kommen Sie nach Bremen, wir brauchen Sie.“ Eine zierliche ältere Frau kämpft sich wacker zu Stoiber durch . Daß ihr die Menschentraube im Gedränge fast die Luft abdrückt, hält sie klaglos aus. Tränen stehen in ihren Augen, als sie es schließlich geschafft hat. „Herr Stoiber“, wispert die Frau dem Ministerpräsidenten ins Ohr. „Sie müssen Bundeskanzler werden.“

Kerstin Schneider