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BGH-Geiß ist offensiv

■ Neuer Präsident beklagt: Teure Streitfälle haben privilegierten Zugang

Karlsruhe (taz) – Dem Bundesgerichtshof (BGH) wächst die Arbeit über den Kopf. Allein die Anzahl der Zivilrevisionen, beklagte gestern beim Jahresempfang der neue BGH-Präsident Karlmann Geiß, sei seit 1992 um 30 Prozent angestiegen. SPD-Mitglied Geiß beließ es aber nicht beim Jammern, sondern packte zugleich ein besonders heikles Thema an. Die soziale „Balance“ der BGH-Tätigkeit. Derzeit gilt: Geringe Streitwerte haben kaum Chancen auf eine Revision.

Zu den zwölf Zivilsenaten des BGH kommt man nämlich auf zwei Wegen: Entweder läßt das Oberlandesgericht (OLG) die Revision gegen ein Urteil ausdrücklich zu oder der Fall hat einen Streitwert von über 60.000 Mark. Im Jahr 1996 war das Ungleichgewicht ganz offensichtlich: 3.600 Streitwertrevisionen standen nur 300 Zulassungsrevisionen gegenüber.

Im Klartext: Wer um einen teueren BMW streitet, bekommt automatisch Zugang zum höchsten deutschen Gericht. Geht es nur um einen VW, bleiben die Türen in der Regel verschlossen. Inzwischen sind ganze Rechtsgebiete, bei denen es um eher kleine Summen geht, kaum noch am BGH präsent. Dies gilt etwa für das Unterhaltsrecht oder das Mietrecht.

Zwar sollen die OLGs in grundsätzlichen Fragen die Revision zulassen, das tun sie aber nicht. Insider sagen offen: „Zugelassen wird die Revision nur bei wasserdichten Urteilen. Wenn geschlampt wurde, schließt man die Revision aus.“

Die naheliegende Forderung wäre, eine Beschwerdemöglichkeit gegen die Nichtzulassung einzuführen. Doch dies hieße: Noch mehr Arbeit für den BGH. Deshalb setzt Geiß am anderen Ende an: „Wir brauchen sehr bald eine Neuregelung der Streitwertrevision.“ Manche Richter am BGH würden sie am liebsten abschaffen. Soweit kann Geiß jedoch nicht gehen, denn die 30 beim BGH zugelassenen Anwälte sind von der großen Zahl der Revisionen ökonomisch abhängig. Werden ihre Interessen nicht gewahrt, würden sie wohl den Untergang des Rechtsstaates an die Wand malen. Christian Rath

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