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Der alltägliche Lagerterror im KZ-Buchenwald

■ Ein halbes Jahrhundert verschollen, vor kurzem in Deutsch erschienen: Die Berichte der Häftlinge, unmittelbar verfaßt nach ihrer Befreiung im April 1945

Auschwitz war nicht nur der Name für jenes Todeslager, in dem von allen Lagern die meisten Menschen ermordet wurden. Weil dort mit Hilfe des Vergasungsmittels Zyklon B das Töten bis ins Extreme durchrationalisiert wurde, nennen wir diesen Namen zu Recht stellvertretend für das nationalsozialistische Lagersystem insgesamt.

Doch langsam, mit jedem neu erscheinenden Bericht eines Überlebenden, mit jeder neuen historiographischen Arbeit, lernen wir zu unterscheiden. Lager ist nicht gleich Lager, Deportierter nicht gleich Deportierter. Buchenwald gehört nicht zu jenen Todeszentren wie Maidanek, Treblinka und Sobibor, in die vor allem die Juden gebracht wurden, um sie zu vergasen. Trotzdem kamen von den 230.000 Häftlingen, die Buchenwald und seine Nebenlager durchliefen, 50.000 dort um.

Als am 11. April 1945 die ersten amerikanischen Panzer aus General Pattons Dritter Armee das Lager erreichten, trafen sie noch 21.000 Gefangene an. Auf einem der Türme befand sich eine weiße Fahne: Buchenwald war bereits frei.

Die Bewertung der Befreiung war in der Folge heftig umkämpft. In der DDR rankten sich um sie viele Mythen. Was Buchenwald ohne Zweifel von anderen Lagern unterscheidet, ist die Tatsache, daß es den politischen Häftlingen, vor allem den Kommunisten, gelungen war, eine funktionierende illegale Organisation aufzubauen. Sie ließ bedrohte Kameraden „verschwinden“, schmuggelte sogar Waffen ein und trug maßgeblich dazu bei, daß es in den Tagen vor der Befreiung nicht zu höheren Opfern kam.

Auf kommunistischer Seite, etwa in dem Roman „Nackt unter Wölfen“ des Überlebenden Bruno Apitz wurde die Situation als eine aktive, bewaffnete Selbstbefreiung dargestellt. Gegenzulesen ist dieses Ereignis zusammen mit anderen jetzt in einer einzigartigen Quelle, dem über 50 Jahre nach seiner Entstehung endlich auf deutsch erschienenen „Buchenwald-Report“.

Von einer Schlacht um die Wachtürme, wie Apitz sie schildert, ist dort keine Rede. In sachlichem Ton heißt es, daß sich die Posten „beim näher kommenden Schlachtenlärm knapp vor 15 Uhr in den umliegenden Wald zurückzogen, worauf die Kameraden des Lagerschutzes sofort den Stacheldraht durchschnitten, die Türme ihrerseits besetzten, das Tor am Lagereingang nahmen und die weiße Fahne auf Turm I hißten.“ Der Report bedient nur selten das Bedürfnis nach Heroismus, wirkt dadurch um so überzeugender.

Schon am 16. April erschien in Buchenwald eine Gruppe des US- Nachrichtendienstes, die die Funktionsweise des Konzentrationslagers ergründen und die in ihm verübten Verbrechen recherchieren sollte. Leutnant Albert G. Rosenberg ließ Interviews mit ehemaligen Häftlingen anfertigen und beauftragte eine Gruppe von ihnen, einen Bericht abzufassen.

Sie wurde von Eugen Kogon geleitet, dessen 1946 erstmals erschienenes Buch „Der SS-Staat“ heute zu den Standardwerken über die Lager gehört. Diese auf die Analyse des Terrorsystems insgesamt ausgeweitete Studie beruht zu großen Teilen auf dem Buchenwald-Report.

Schon am 11. Mai lag der Bericht auf dem Tisch. Im ersten Teil, den Kogon diktierte, findet sich eine systematische Beschreibung der Anlage, der Funktionen und des Innenlebens von Buchenwald. Der zweite Teil versammelt zahlreiche Erfahrungsberichte einzelner Personen. Er gewährt einen unvergleichlichen Einblick in den alltäglichen Lagerterror. Jede Seite macht deutlich, warum Buchenwald auch die Knochenmühle genannt wurde.

So trägt der Report zum kollektiven Gedächtnis der Opfer bei. Und er gibt der Geschichtsschreibung neues Material an die Hand. Denn nach Ende der DDR entwickelte sich eine abgründige Debatte um Buchenwald. Sie entzündete sich an der Selbstverwaltung des Lagers durch die politischen Häftlinge. Um eine Organisation aufbauen zu können, mußten sie Machtpositionen besetzen. Dies bedeutete bis zu einem gewissen Grade Kollaboration, brachte aber auch Entscheidungsspielräume.

Der Historiker Lutz Niethammer gab 1994 Dokumente aus SED-Beständen über die roten Kapos heraus, die die strikte Opfer-Täter-Unterscheidung ins Wanken bringen. („Der gesäuberte Antifaschismus. Die SED und die Kapos von Buchenwald“. Akademie Verlag, Berlin, 48 Mark) Unter diesen Vorzeichen lassen Passagen des Reports aufhorchen, in denen davon die Rede ist, daß die Macht der Funktionshäftlinge „zum Teil auf das allerschwerste mißbraucht“ wurde. Auf einige offene Forschungsfragen gibt der Report hingegen keine Antwort: Schützten Funktionshäftlinge eigene, „wertvolle“ Kader, indem sie dafür andere Häftlinge in den Tod schickten? Wurden zum Schutze der konspirativen Organisation „Säuberungen“ in den eigenen Reihen vorgenommen? Beteiligten sich Häftlinge gar an der Ermordung von Mithäftlingen durch „Abspritzen“?

Primo Levi, ein Auschwitz- Überlebender, beharrte bei der Erörterung ähnlicher Fragen darauf, daß die erste und alles bedingende Spaltung diejenige von Nazis und Verfolgten sei. An diesem Punkt stoßen alle Differenzierungen innerhalb beider Gruppen an eine absolute Grenze.

Bleibt die Frage, warum der Report erst jetzt erscheint? Zuerst verhinderten Nachkriegswirren und Kalter Krieg die Publikation, dann vernichtete ein Wasserschaden in Kogons Keller dessen Manuskript. In deutschen Archiven fand sich kein vollständiger Text mehr, bis David A. Hackett auf Rosenbergs Exemplar stieß, das inzwischen nach Texas gelangt war. Hackett gab es zum 50. Jahrestag der Befreiung Buchenwalds heraus. So werden zuletzt die lange ungehört gebliebenen Stimmen der Gefangenen wieder lebendig. Sven Kramer

„Der Buchenwald-Report. Bericht über das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar“. Hrsg. v. David A. Hackett, C. H. Beck Verlag, München 1996, 456 S., 58 DM

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