„Brothers“ auf Zeit

Zusammenhalten, auf dem Schulhof die Glatzen ignorieren und nicht zuviel an früher denken: Im brandenburgischen Fürstenwalde leben 42 jugendliche Flüchtlinge, die allein nach Deutschland gekommen sind. Oft auf abenteuerlichen Wegen  ■ Von Constanze v. Bullion

Mitten in der Nacht standen sie im Zimmer. Holten ihn aus dem Bett. „Mitkommen“, bellte einer, „schnell.“ Anwar blieb keine Zeit, die Sachen zu packen. Keine Zeit, den Freunden Bescheid zu sagen. Keine Zeit, Angst zu kriegen. Ein paar Dollarscheine steckte ihm jemand in die Hosentasche. Dann saß er schon hinten im Wagen. Die Fenster waren zugeklebt, das weiß er noch. Und daß die Männer am Steuer jung waren, „zwei Afghanen, die waren in Ordnung“.

Was er nicht sehen konnte, waren die staubigen Straßen, die von Peschawar im Norden Pakistans nach Afghanistan führen. Gesehen hat er auch die Grenzer nicht, mit denen die Fahrer leise verhandelten: auf persisch erst, auf russisch später. Gegessen, getrunken, geschlafen hat er im stickigen Fond des Wagens. Fünf Tage und Nächte, bis das Auto hielt. In Warschau, wo die Schlepper wechselten. Jetzt hatten sie weiße Haut. Und waren nicht mehr in Ordnung.

„Die haben mir mein Geld weggenommen. Dann kam ein Bus mit Frauen und Kindern, ungefähr vierzig. Der ist in ein Dorf gefahren. Und wir mußten laufen.“ Zehn Stunden, schätzt Anwar Mohammad, stapften die Flüchtlinge durch den Wald. Wahrgenommen hat er bald gar nichts mehr. Bis fünf grüne Wagen kamen, „die standen um uns herum, ganz plötzlich“. Bundesgrenzschutz.

Anwar Mohammad, geboren 1979 in Silakot, Pakistan, ist heute 17. Und einer von schätzungsweise 6.000 unbegleiteten Flüchtlingskindern, die fast alle von Schleppern über die deutsche Grenze geschleust wurden. Und er ist einer von den „brothers“: 42 Jugendliche aus 17 Ländern, die im „Alreju“ in Fürstenwalde wohnen. „Alreju“, das steht für „alleinreisende Jugendliche“, für das einzige Kinderheim Brandenburgs, wo minderjährige Flüchtlinge leben. Zusammen, wie „brothers“. Fragt sich nur, wie lange noch.

Jugendliche Flüchtlinge werden in Brandenburg bisher nicht abgeschoben, solange sie unter Vormundschaft der Jugendhilfe stehen. Durchs Asylverfahren müssen sie trotzdem. Mit 21 ist Schluß mit dem Kinderschutz. „Bis dahin“, weiß Mathilde Killisch, „müssen sie mit der Schule fertig sein und sollten eine Lehre haben.“

In einer gelb getünchten Kaserne am Rand von Fürstenwalde hat die 42jährige Westfälin vor sechs Jahren ihre Arbeit als Heimleiterin begonnen. Und beschlossen, daß ihre Schützlinge „möglichst selbständig leben sollen“. Sieben Wohngruppen läßt die Diakonie hier von je zwei ErzieherInnen betreuen. Wer alt genug ist, kocht selbst.

Anwar Mohammad ißt gar nichts. Zumindest nicht morgens. Fastenmonat Ramadan? „Quatsch“, sagt er und läßt ein freches Grinsen über sein Gesicht fliegen. Dann dreht er die Anlage leiser, aus der hämmernder HipHop dröhnt. In der Wohnung mit den Stockbetten, wo die Spice Girls überfüllte Wäscheständer anlächeln, wohnen sechs Jungs aus Pakistan und Indien. „Sechs Brüder“, sagt Anwar, „das ist super.“ Klar ist es da nicht besonders cool, von Religion zu reden. Aber ein Thema ist es doch: „Ramadan heißt, ab Sonnenaufgang nichts essen und nicht zu den Mädchen gehen“, sagt er. „Ich finde das nicht gut, sich nicht daran zu halten. Ich müßte das machen.“

Anwar Mohammad wurde nach den Regeln des Islam erzogen. Fanden seine Elten. Die Nachbarn sahen das anders. Denn für orthodoxe Muslime sind die Anhänger der muslimischen Ahmadi-Bewegung, zu der Anwars Familie gehört, Ungläubige. In Pakistan, so ein Gutachten der Universität Heidelberg, werden sie „wegen ihres Glaubens in einer Weise verfolgt, daß eine Gefahr für Leib, Leben oder persönliche Freiheit besteht“. Spröde Beschreibung eines dramatischen Lebensalltags.

Isolation, Drohungen, Prügel. „Weil diese Leute immer wieder gekommen sind“, konnte Anwar nicht bei seinen Eltern bleiben. Er landete im Waisenhaus, versteckte sich dann bei einem Freund des Vaters in der Flüchtlingsstadt Peschawar. „Ein Lehrer kam zum Unterricht ins Haus, weil ich nicht mehr in die Schule gehen konnte“, erzählt er. Und bricht plötzlich ab. „Ich will nichts mehr wissen von Pakistan, jetzt bin ich hier.“

Hier, in Fürstenwalde, fängt die Schule um halb acht an. Ein kleiner Trupp macht sich auf den Weg: Anwar mit einem grünen Rucksack, auf dem ein Fähnchen vom FC Bayern hängt. Die anderen mit Baseballkappen und Raverjacken, ziemlich verschlafen alle. Im Bus ist es voll. Blasse Kids, mit Glatze oder ohne, haben's eilig, hinter die Backsteinmauern der Gesamtschule zu kommen.

Die von „Alreju“ bleiben zusammen. Sie werden gesondert unterrichtet. Auch im Deutschkurs bei Frau Reduhn. Aus Bangladesch, dem Iran, China, Albanien, Rußland und Afghanistan sind die 14, die heute Personalpronomen üben. „Wir haben versucht, die Fortgeschrittenen in eine deutsche Klasse zu schicken“, erzählt die ehemalige Russischlehrerin, „aber die Deutschen haben sie nicht angenommen. Wenn Kontakte zustande kommen, dann nur negative.“

Die Bomberjackenfraktion würdigt Anwar auf dem Heimweg mit keinem Blick. „Das sind fünf Jungen und drei Mädchen“, sagt der Klassensprecher der „Alreju“- Klasse, „vor denen alle Angst haben.“ Und er selbst? „Quatsch. Kein Problem.“ Anwar ist zu stolz, um sich über die täglichen Rempeleien und blöden Sprüche zu beschweren, die den Lehrern Sorgen machen. „Die trauen sich nicht an uns ran.“

An andere schon. In Sachen Ausländerfeindlichkeit kommt Fürstenwalde nicht aus den Schlagzeilen. Allein im letzten Monat langten die Glatzen dreimal zu: Am 7. Dezember wurden zwei jugendliche Asylbewerber aus Sierra Leone und Vietnam in einem Supermarkt verdroschen. Zwei Tage später brannte das Haus portugiesischer Bauarbeiter. Kurz nach Weihnachten wurde ein 23jähriger Pakistaner mit Springerstiefeln zusammengetreten.

Warum immer nur von rechten Jugendlichen in Fürstenwalde berichtet wird, fragt Constanze Czerwinske, die im Heim ein und aus geht. Jetzt sitzt sie mit den Jungs in Anwars Wohnung und hört „Mr. President“. „Wir sind nicht alle gegen Ausländer“, sagt die 17jährige Gymnasiastin. „Als mal ein Angriff auf das Heim geplant war, haben wir eine Telefonkette organisiert. Und meine Mutter hat ein Mädchen aufgenommen.“

Daß es auch ein paar „sisters“ gibt unter all den „brothers“, ist ziemlich wichtig für Anwar. Vor allem wegen Jie. Die wohnt im Erdgeschoß. In einer Wohnung, wo filigran gefaltete Papiervögel von der Decke baumeln und wo es nach Seife riecht. Nach viel Seife. Der ganze Boden ist voll Schaum, und mittendrin rutschen Zho-Jie und Zho-Li auf Knien herum. Barfuß und mit kleinen Bürsten in den Händen. Zwillingsschwestern könnten die Chinesinnen sein: zwei grüne Strickpullover, zwei schwarze Hosen mit akkuraten Bügelfalten. Zweimal glatte schwarze Pferdeschwänze. Und zweimal freundliche Gesichter, die nichts erzählen.

Warum sie hier sind, weiß auch Anwar nicht. Nur, daß sie vor vier Monaten gekommen sind. Und daß Jie Anwars Freundin ist. „Mit der bin ich zusammen“, erklärt er und läßt seinen Schlüsselbund einmal ums Handgelenk kreisen. Daß er seine Eroberung nicht nach ihrer Vergangenheit fragt, ist Stil des Hauses. Das Thema Familie ist für alle hier ein wunder Punkt. Und eine juristische Fußangel.

„Wer neu ist, redet oft monatelang nicht von der Vergangenheit“, weiß Heimleiterin Killisch. Wer nicht spricht und nicht ißt, kämpft oft mit dem Heimweh. Und fürchtet gleichzeitig, zurückgeschickt zu werden. Denn sobald Familienangehörige ausfindig gemacht werden, die ihre Kinder versorgen könnten, droht die Abschiebung.

Der Kontakt zu den Eltern ist bei vielen allerdings längst abgerissen. Hardschid Singh, ein Sikh aus dem nordindischen Pandschab, hat nie eine Antwort auf seine Briefe bekommen. Sein Kumpel aus Afghanistan, dessen Vater Minister der Regierung Nadschibullah war und zusammen mit Onkel und Cousins umgebracht wurde, weiß nicht, ob Mutter und Geschwister noch leben. Anwar Mohammad will es gar nicht wissen. Er ist sauer. Auf seine Eltern. „Auf diese ganzen Sachen mit der Religion.“

„In einer ganz beschissenen Situation“, sagt die Heimleiterin, „sind vor allem Jugendliche, bei denen die Verwandtschaft ihr ganzes Vermögen zusammengekratzt hat, um die Schlepper zu bezahlen. Manche erwarten, daß der Sohn Geld zurückschickt aus dem reichen Deutschland. Aber arbeiten darf der hier gar nicht.“

Anwars „brothers“ lachen über solche Geschichten. „Meine Eltern haben sehr viel Land“, erzählt Hardschid, „die brauchen kein Geld. Wenn da Frieden wäre, könnte ich arbeiten und mit meinem Moped rumfahren.“ Anwar Mohammed träumt von einer Wohnung in Deutschland. Von „Freiheit“. Und von einem Job als Tischler. Lehrstellen für acht Heimbewohner hat die Diakonie kürzlich besorgt. Das Jugendamt Fürstenwalde ist bereit, die Ausbildungsplätze zu finanzieren. Antreten zur Lehre wird im „Alreju“ trotzdem keiner: Weil das Arbeitsamt die Genehmigung verweigert. Integration unerwünscht.

Anwar Mohammad kümmert das wenig. Jeden Mittwoch um halb fünf zieht er seine Sportklamotten an. Mit ein paar Brüdern fährt er zur Turnhalle und stellt sich ins Fußballtor. Die meisten Deutschen seien aus dem Verein ausgetreten, seit die Ausländer spielen, erzählt Trainer Erwin Kirsch. „Weil sie immer verloren haben gegen uns“, sagen die Jungs von „Alreju“. Zusammen mit den fünf Blonden, die übriggeblieben sind, kicken und köpfen sie auf Anwars Tor. Und stürzen nach Hause, als der Trainer abpfeift.

Höchste Zeit zum Essen. Zeit für Urid Dal und rote Bohnen, die Anwar aus seinem Schrankfach zieht. Curry-Huhn gibt es heute. Auch für Jie und Li, die inzwischen ihre Fensterbretter schrubben. „Ich muß zu meiner Frau“, sagt Anwar und kichert. „Wir müssen über Pakistan reden.“