: Tapetentür im Werkgebäude
Stenographisch ins Gemüt gerammt. Das fragmentarische „Lilienthal 1801, oder Die Astronomen“, ein über 20 Jahre geplanter, nie geschriebener Roman von Arno Schmidt, war möglicherweise eine selbstgestellte Konzeptionsfalle ■ Von Guido Graf
Arno Schmidt benötigte die Aussicht auf ein Buch, das er nie schreiben könnte. Anfangs waren die Pläne noch sehr konkret, später verloren sie jegliche Dimension. Da war es dann auch nicht mehr so entscheidend für die weitere Werkentwicklung. „Lilienthal“, das in über 20 Jahren nie verwirklichte Buchprojekt, war für Schmidt kein Sehnsuchtsort, eher eine besonders raffiniert gedachte Tapetentür im Werkgebäude, für die jedoch nie auch noch ein Raum vorgesehen war. Was kann man in einem Buch lesen, das es nicht gibt? Eine Geschichte von Verhinderungen, auch Ausreden, von Fluchten und Wunschvorstellungen, die ihre bindende Kraft hier nicht finden.
Detailliert skizziert Bernd Rauschenbach für „Lilienthal“ – nach einer über Entstehung, Inhalt und Werkzusammenhang informierenden Einleitung – anhand von Dokumenten (eine ganze Reihe von Faksimiles, teils farbig wiedergegeben und satztechnisch aufwendig transkribiert) sowie Zitaten aus Werken, Briefen, Tagebüchern Arno und auch Alice Schmidts die „Chronologie einer Nicht-Entstehung“ von 1955 bis zu Schmidts Tod 1979, in der sich ganz allmählich Motivationen für das literarische Schreiben Schmidts und deren Destruktionen entfalten. Immer noch etwas mehr, etwas anderes anzukündigen, das bisher Geleistetes in den Schatten stellt, treibt Schmidt in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre lange zur Fortsetzung der „Lilienthal“- Arbeit an.
Bruchlos ist dieser Prozeß jedoch von Anfang an nicht. Die Verbindung des Projekts mit der selbststilisierenden Sehnsucht nach norddeutschen Tiefausläufern und der damit verbundenen Lebensqualität dient dann immer wieder auch als Begründung, nun – noch „in diesem Scheiß-Darmstadt“ wohnend – doch noch nicht beginnen zu können (oder zu müssen). Dann ist es der Umzug (in die Heide) selbst, der dazwischentritt. Wiederholt sind es auch die finanziellen Zwänge, die einen Verzicht auf Einnahmen aus Übersetzungen und publizistischer Tätigkeit verbieten. Für den umfangreichen Roman „Kaff“, der Ende 1959 einiges an Stoff und Energie aus der jahrelangen Arbeit an „Lilienthal“ abgezogen hat und zudem in kürzester Zeit entsteht, ist dennoch Raum.
Zu diesem Zeitpunkt ist eine für Schmidts weiteres Werk wichtige Zäsur gegeben, die sich in der Textgestalt durch die Verknüpfung einer verstärkten Dialogisierung und deren typographischer Darstellung (also der mündlichen Rede) äußert: „Problem: in L. werden öfters Gespräche aller Art vorkommen (gewiß: ab & zu eine Regiebemerkung dazwischen; aber doch rar). Wie nun in solchen Fällen die Redenden typografisch = suggestiv vor das Auge des Lesers bringen??!!“ Neben den dann in „Kaff“ ausgeführten Versuchen, Sprechsprache „suggestiv“ zu verschriftlichen, geht es Schmidt hier auch um die Einführung einer Bilderschrift.
Statt die Namen der Hauptfiguren immer zu wiederholen, sollen Ideogramme an ihre Stelle treten. Der Leser bekomme die durch das jeweilige Ideogramm dargestellte Figur „gleichzeitig abstrakt & konkret, blitzschnell, unwiderstehlich = stenografisch, ins Gemüt gerammt“. Konzeptionen derartiger Schreibgewalt sind durchaus typisch für Schmidts poetologisches Denken.
Die Koordinaten, in denen die erhaltenen und hier transkribierten Zettel ihre Ordnung hätten finden sollen, sind nur in einem sehr groben Raster auszumachen, dem Farbe und Rhythmus der Schmidtschen Prosa fehlen. Vielleicht liegt der Grund dafür, daß Schmidt „Lilienthal“ Ende der fünfziger Jahre nicht geschrieben hat, auch in einer selbstgestellten Konzeptionsfalle. In einem Plan vom Februar 1956 skizziert Schmidt „Handlungs- und Gesinnungsströme“, die Personen oder Personengruppen zugeordnet sind, die wiederum mit diversen Episoden und spezifischen stilistischen Eigenschaften verbunden sein sollen, ohne daß je sichtbar würde – auch in den folgenden Planungsstufen –, was dieses Partikelgestöber zum „Meisterstück“ integrieren könnte. Vieles soll gleichzeitig und gleichwertig geschehen und noch dazu in einer großen Zahl disparater Stimmlagen. Ein späterer Handlungsplan zerfasert ebenso wie der Versuch, dem Personal Gedankenspielraum zu verschaffen. Möglicherweise kam 1955 der breitangelegte Entwurf, konzeptionell eher dem Spätwerk verwandt, zu früh.
Ein weiteres Merkmal dafür, daß das Projekt für Schmidt immer unüberschaubarer wurde, ist der veranschlagte Umfang, der sich anfangs noch an einer Erzählung orientierte, die in einem Sammelband mit anderen erscheinen könnte, und schließlich sich zu einem großen Panorama auswächst, das noch „Zettels Traum“ übertreffen soll. Immer wieder setzt Schmidt das Projekt auch mit anderen Arbeiten, zum Beispiel für den Rundfunk, in Beziehung, um es so – zumindest als Absichtserklärung – mit seiner schriftstellerischen Erwerbstätigkeit verbinden zu können.
Ende 1957 – zwischendurch hängt es ihm schon mal „nicht nur zum Halse“ heraus, oder er fühlt sich „einfach nicht ,reif‘ dazu“ – verkündet Schmidt nach über zweijährigen Vorarbeiten „Lilienthal“ für gestorben, um nur wenige Tage darauf doch mit einer Niederschrift zu beginnen. Er betrinkt sich „zur ,Nachfeuerung‘“ und entwirft zwei Manuskriptseiten. Mehr geht nicht.
Das peinigende Gefühl, für das Projekt keine geeignete Umsetzung finden zu können, weicht in den sechziger Jahren der Selbstinszenierung mit „Lilienthal“ als Damoklesschwert und eigentlich nur im Jenseits einzulösenden Aufgabe zugleich.
Die Selbstbespiegelung im Tagebuch umkreist die Suggestion, dieses Buch schon irgenwann noch schreiben zu können. Das Wort ersetzt die Tat, die Vorstellung verselbständigt sich zur frei formbaren Masse des Über-Buches, das tatsächlich nie entstehen darf, da diese Projektion ja sonst zerstört würde. Noch 1977 schreibt Schmidt in einem Brief an Jan Philipp Reemtsma, der ihm finanzielle Unterstützung anbietet: „Ich könnte, ich habe es zum Schaden meiner Seele versucht, den ganzen Komplex doch relativ rasch wieder beleben.“ Als Preis für dieses Leben ist er bereit – so will es die einmal eingegangene Stilisierung –, mit Körper und Seele dafür zu zahlen.
Arno Schmidts „Lilienthal 1801, oder Die Astronomen“. Fragmente eines nicht geschriebenen Romans. Unter Mitarbeit von Susanne Fischer, herausgegeben von Bernd Rauschenbach, Haffmans Verlag, Zürich 1996, 171 Seiten, 180 DM
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