Krankfeiern statt sinnlos arbeiten

■ Fast die Hälfte der ArbeiterInnen bei DeTeWe in Kreuzberg hat sich krank gemeldet, nachdem sie gekündigt wurden. Wirtschaftssenator: Zahl der Arbeitsplätze nimmt bis Ende 1998 um 30.000 ab

Frust und Durchhalteparolen: Das sind die vorherrschenden Reaktionen auf die miese Wirtschaftslage. Gestern erklärte Wirtschaftssenator Elmar Pieroth (CDU), die Zahl der Arbeitsplätze werde auch in den kommenden zwei Jahren weiter abnehmen. Sein Aufruf: „härter arbeiten“. Währenddessen haben sich bei DeTeWe in Kreuzberg 40 Prozent der ArbeiterInnen krank gemeldet. 250 von ihnen verlieren in den nächsten Wochen den Job.

„Die KollegInnen haben keine Kraft mehr“, sagt Mara Keller, Betriebsrätin der Deutschen Telefonwerke (DeTeWe). „Sie sind verbittert und mit den Nerven am Ende.“ Insgesamt fehlten über die Hälfte derjenigen, die ihr Kündigungsschreiben erhalten haben. Einige seien im Urlaub, andere blieben einfach weg.

Die Firma hat den ArbeiterInnen gekündigt, weil die Fertigung von digitalen Vermittlungsanlagen für die Telekom beendet werden soll. Neue Produkte und Aufträge sind nach Angaben der Geschäftsleitung nicht vorhanden. Damit bleiben in Kreuzberg nur Büros und Lager, die auf die Dauer aber auch auf der Abschußliste stehen.

Insgesamt würden bis Ende 1998 nochmals etwa 30.000 Arbeitsplätze verloren gehen, so die Prognose von Elmar Pieroth. Im vergangenen Jahr seien unter dem Strich 22.000 Stellen weggefallen und 1995 rund 30.000. Das Tempo des Arbeitsplatzabbaus habe sich aber verlangsamt. Die Firmen hätten in den vergangenen sechs Jahren knapp 11.000 Arbeitsplätze nach Brandenburg verlagert.

Der Strukturwandel müsse aktiv gestaltet werden und sei nicht negativ zu sehen, sagte Pieroth. Immerhin habe es in Westdeutschland einen kontinuierlichen Erneuerungsprozeß gegeben, der in West-Berlin durch Subventionen gebremst worden sei. Es müßten Menschen gewonnen werden, die mehr und hart arbeiten. Der CDU- Senator betonte: „Wir brauchen die 60- und 70-Stunden-Menschen.“ Mit Arbeitszeitverkürzung sei es nicht getan.

Positiv sei der Schwung bei den Existenzgründungen, erklärte der Wirtschaftssenator. Alleine 1996 hätten rund 3.500 neue Betriebe eröffnet. Was aus ihnen wird, steht jedoch vielfach in den Sternen. Die Statistiken zeigen, daß nach fünf Jahren nur etwa 60 Prozent der Existenzgründer überlebt haben.

Seit Anfang des Jahres jagen sich derweil die Hiobsbotschaften aus der Industrie. Mehrere Konzerne schließen ihre Produktionen in Berlin. Gestern wurde bekannt, daß die Zigarettenfirma BAT 450 Jobs in Spandau vernichtet und einen Teil nach Bayreuth verlagert.

Hoechst beendet die Faserherstellung in Lichterfelde, Elida- Gibbs stellt die Kosmetikfertigung in Neukölln ein. Die Konzentration an anderen Orten ist angeblich kostengünstiger. Verlust: 280 Arbeitsplätze. Auch der Elektronikkonzern Alcatel-SEL reduziert seine Beschäftigten um 300.

Beim Anlagenbauer Babcock- Lentjes in der Strokower Straße müssen demnächst 150 Leute gehen, in diesem oder dem nächsten Jahr stehen weitere 220 KollegInnen auf der Kündigungsliste. Auch die Filterfabrik Melitta hat Entlassungen angekündigt. Der Januar 1997 ist rekordverdächtig: Die Industrie bringt es auf über 1.700 angekündigte oder vollzogene Entlassungen. Hannes Koch