: Mary Dunbar und schwarze Katzen
Nordirland will den Tourismus ausbauen, doch neue „Troubles“ schrecken die Urlauber. Zu Unrecht: Eine Reise auf die nordirische Halbinsel Islandmagee und die einst wichtigste Stadt des irischen Nordostens, Carrickfergus ■ Von Ralf Sotscheck
Hochspannungsleitungen überziehen die Insel wie ein Spinnennetz. Sie kommen aus allen Richtungen und laufen an der Nordspitze von Islandmagee beim Ballylumford-Kraftwerk mit seinen drei hohen Schornsteinen zusammen. „Die Umstellung von Öl- auf Gasfeuerung mit Hilfe von EU- Geldern wurde im April 1996 begonnen und im November 1996 fertiggestellt“ steht stolz auf einem riesigen Schild hinter dem hohen Zaun, mit dem das Kraftwerk gesichert ist.
Islandmagee ist eine elf Kilometer lange Halbinsel nördlich von Belfast. Ausländische Touristen verirren sich nur selten hierher. „Bed and Breakfast“ sind rar, die Straßen unebener, die Menschen gelassener. Islandmagee habe einen ganz eigenen Charakter, sagt Rosemary Evans vom nordirischen Fremdenverkehrsamt.
Sie hat keinen einfachen Beruf. Während der Tourismus zu den wichtigsten Einnahmequellen der Republik Irland zählt, können die nordirischen Tourismusmanager nur davon träumen. Als die IRA vor gut zwei Jahren einen Waffenstillstand verkündete, hoffte man auf bessere Zeiten. 1995 war denn auch ein Rekordjahr, doch dann war es wieder vorbei. Im vergangenen Februar hob die IRA die Waffenruhe auf, und im Sommer legten die probritischen Unionisten ganz Nordirland lahm, weil man ihre Paraden nicht durch katholische Wohnviertel marschieren lassen wollte. Prompt ging der nordirische Tourismus 1996 um elf Prozent zurück – Tendenz weiter sinkend. Dabei gibt es keinen Grund, die britische Krisenprovinz zu meiden. Touristen sind im Zuge der „Troubles“, wie der Konflikt euphemistisch genannt wird, noch nie zu Schaden gekommen.
Die Spitzen der vielen Hügel auf Islandmagee sind schneebedeckt. Die kleine blaue Holzhütte, wo im Sommer Erfrischungen verkauft werden, ist mit Brettern vernagelt. Der Wohnwagenplatz auf der anderen Seite der Straße ist geschlossen, die Palmen an der Einfahrt scheinen wie eine ferne Erinnerung an das vom Golfstrom geprägte, eigentlich milde irische Klima. Selbst der Bauernhof neben dem Caravan Park scheint verlassen.
Lediglich aus einem der vier zweistöckigen Reihenhäuser links am Hügel steigt Rauch aus dem Schornstein. Frau Dunwoody hat ein Torffeuer im Kamin angezündet. Sie hat Mitleid mit uns und lädt uns zu einer Tasse Tee ein. Ob wir noch bei Trost seien, bei diesem Wetter im Hafen herumzulaufen, fragt sie. Der Wind ist jetzt stärker geworden und peitscht die graue See über den Strand. Im Sommer sei es anders, sagt Frau Dunwoody. Da kämen an den Wochenenden die Leute aus Belfast und Larne und badeten in der Irischen See. Ob wir schon den Dolmen gesehen hätten, fragt sie. Das sei die berühmteste Sehenswürdigkeit auf Islandmagee.
Wir fahren in die Ballylumford Road Nummer 91. Links vom Haus führt ein Tor in den Hof. Ein Schild daneben weist auf den „Ballylumford Dolmen“ hin: ein Grab mit nur einer Kammer, das zwischen 2000 und 1500 v. Chr. errichtet wurde. Der Dolmen steht direkt vor der roten Eingangstür des Hauses. Vier riesige Grundsteine, auf denen eine massive Steinplatte ruht, drum herum eine schwarze Kette. Wenn man ins Haus will, muß man sich an dem Ungetüm vorbeizwängen. Vermutlich benutzt die Familie den Hintereingang.
Ganz in der Nähe soll Mary Dunbar gewohnt haben, die im Jahr 1711 berühmt wurde, weil sie acht Frauen an den Pranger brachte. Als Mary Dunbar schmerzhafte Anfälle bekam, waren die Nachbarn überzeugt, daß sie von Hexen gequält wurde. Nach jedem Anfall beschrieb Mary Dunbar eine der Übeltäterinnen, die sie für ihr Leiden verantwortlich machte, und nannte sie beim Namen. Die Church of Ireland verurteilte die Frauen zu zwölf Monaten Gefängnis und den Pranger. Es war der letzte Hexenprozeß in Irland.
Wir fahren sechs Meilen nach Carrickfergus. Es ist die „britischste Stadt“ Irlands – nicht nur wegen der Bordsteine, die im Blau- Weiß-Rot des Union Jack angestrichen sind. Die Burg, die auf einem Felsen am Meer steht und das Stadtbild prägt, war von entscheidender Bedeutung für die Sicherung der anglo-normannischen Herrschaft in Irland. Sie stammt aus dem Jahr 1180. Eine Zeitlang war Carrickfergus der einzige Ort im Norden der Insel, wo englisch statt gälisch gesprochen wurde. Bis ins 19. Jahrhundert war Carrickfergus die wichtigste Stadt im Nordosten, dann übernahm Belfast diese Rolle.
Carrickfergus ist eine ordentliche Stadt. Auf den Straßen liegt kein Abfall, an den Laternen hängen Schilder, die den öffentlichen Genuß von Alkohol untersagen. Links am Ufer liegt ein Industriepark, daneben das Andrew Jackson Centre. Die Eltern des späteren US-Präsidenten waren 1765 aus Carrickfergus nach Amerika ausgewandert. Heute steht eine Nachbildung ihres Cottage auf dem Grundstück, doch im Winter ist es geschlossen – ebenso wie das benachbarte US Rangers Centre, wo das Erste Bataillon der Elitetruppe 1942 auf die Invasion der Normandie vorbereitet wurde.
Die Schattenseiten von Carrickfergus sind dagegen gut versteckt. Auf der rechten Seite hoch über der Stadt liegt die Glenfield-Siedlung. Bei schönem Wetter soll man Schottland von hier aus sehen können. Doch wer in Glenfield wohnt, ist nicht wegen der Aussicht hier, sondern weil er keine andere Wahl hat. 15 Prozent der 230 Häuser stehen leer, sie sind mit Wellblech und Brettern verbarrikadiert, damit sie nicht von Jugendlichen zerstört werden. Keiner will die Häuser haben, obwohl mehr als hundert Menschen auf der Warteliste des Wohnungsamts stehen. „Selbst die Obdachlosen wollen nicht einziehen“, sagt eine Anwohnerin. „Hier regiert die UVF.“
Der gesamte Küstenstreifen von Larne bis nach Belfast ist zu 95 Prozent protestantisch, Carrickfergus ist die traditionelle Hochburg der Ulster Volunteer Force (UVF), jener protestantischen Killertruppe, die sich auf Loyalität zur britischen Krone beruft. In der Glenfield-Siedlung kontrollieren die Mitglieder den Drogenhandel, so heißt es. „Wer ihnen ins Gehege kommt, macht mit ihren Eisenstangen und Baseballschlägern Bekanntschaft“, erzählt die Anwohnerin.
Neben dem hochgesicherten kleinen Einkaufsladen am Rand der Siedlung steht ein elektrischer Generator. Um den häßlichen Kasten zu verschönern, hat der zuständige Stadtrat Billy Hamilton vom politischen Flügel der UVF einen Künstler beauftragt, der unter Mithilfe der Kinder eine Landschaft malte. „Am nächsten Tag waren Gemälde und Generator abgebrannt“, sagt Hamilton. „Die Jungs mochten es nicht – wegen der orangenen Sonne, der weißen Wolken und der grünen Wiese.“ Orange-Weiß-Grün: das ist Farbe der irischen Trikolore. Statt dessen prangt auf dem neuen Generator King Billy, wie Wilhelm III. von seinen Anhängern fast zärtlich genannt wird.
Und Anhänger hat er in Carrickfergus viele. Die Stelle an der Pier, wo er am 14. Juni 1690 landete, bevor er einen Monat später seinen katholischen Widersacher und Schwiegervater Jakob II. in der Schlacht am Boyne besiegte und die protestantische Thronfolge sicherte, ist durch eine Plakette markiert.
Hinter dem Rathaus, dem früheren Gerichtsgebäude, liegt die Antrim Street. Wo damals das Gefängnis war, kann man sich heute in rot-blau angestrichenen Gondeln, die an einer Schiene hängen, in 15 Minuten durch 800 Jahre Geschichte schaukeln lassen. Während man zunächst über den mit einer Glaskuppel überdachten Innenhof schwebt, dröhnen aus den in die Gondel eingebauten Lautsprechern Informationen: Es geht zuerst um Auswanderung, um die Jacksons und um Fischfang. Unter der Glaskuppel schlängeln sich silbrige Fische, die durch einen Elektromotor bewegt werden. Dann biegt die Gondel in das Innere des alten Gefängnisses ein.
Es ist stockfinster. Plötzlich tauchen die Hexen von Islandmagee auf und quälen die arme Mary Dunbar. Eine schwarze Katze mit funkelnden Augen schreit, und hinter der nächsten Biegung hängen zwei heruntergekommene Gestalten am Galgen. Es sei wie in einer Zeitmaschine, ruft es aus dem Lautsprecher. In Wirklichkeit ist es wie eine Geisterbahn mit Schlachtenlärm und Schießpulvergeruch. Am Ausgang steht eine wächserne Nachbildung von Deafy McKie, dem tauben Glöckner aus dem 19. Jahrhundert. Eine furchterregende Gestalt: zottelige weiße Haare, ein wilder Bart und ein brauner zerschlissener Mantel. In der Hand hält er eine schwere Messingglocke. Ein Witzbold hat ihm den Klöppel gestohlen, und so schwingt Deafy seine Glocke, ohne zu merken, daß sie keinen Ton von sich gibt.
Am Tor in der Gefängniswand fand 1844 die letzte öffentliche Hinrichtung statt. Der Soldat Cordorey hatte seinen vorgesetzten Sergeanten im Streit um eine Frau erschossen. Weil er erst 19 war, empörte man sich über die Hinrichtung, und fortan wurden die Leute hinter verschlossenen Türen ins Jenseits befördert.
Oder sie kamen ins Burgverlies, das bis weit ins 19. Jahrhundert als Staatsgefängnis diente. Heute ist es so etwas wie eine mittelalterliche Disney World mit nachgebildeten Rittern zu Pferde, Bogenschützen, Burgfräulein – und Gefangenen, deren jämmerliches Wimmern vom Band tönt. Eine Touristin aus Boston, die am vergitterten Fenster ein Streichholz angezündet hat, schreit plötzlich auf: Aus dem dunklen Verlies reckt sich ihr eine plastene Hand entgegen. „Sieht verdammt echt aus“, meint sie erleichtert.
Im Innern der Burg gibt es eine Glasplatte im Fußboden. Wenn man sich draufstellt, schaut man in ein großes Loch, das bis tief in den Felsen reicht. Es ist der Brunnen, den Fergus gesucht hat. Jener Fergus, König von Schottland, kam im sechsten Jahrhundert nach Irland, um den legendären Brunnen zu finden, dessen Wasser ihn von Lepra heilen sollte. Doch sein Schiff zerschellte an dem Felsen, auf dem jetzt die Burg steht. Carrickfergus: Der Felsen des Fergus.
Ganz oben unter dem Dach ist ein Spielzimmer für Kinder eingerichtet: überdimensionale Schachfiguren, mittelalterliche Würfelspiele sowie Umhänge, Pluderhosen und Narrenkappen zum Verkleiden. Für einen Moment kommt die Sonne durch, und aus dem Fenster hoch über dem Felsen kann man auf das glitzernde Meer bis zum Kraftwerk auf Islandmagee blicken.
Als wir durch das Burgtor hinausgehen, ist der Schnee in Nieselregen übergegangen. Auf der Wiese neben der Burg haben drei alte Männer und eine Frau einen Lautsprecher aufgebaut. Einer der Alten predigt, dann spielt ein anderer Akkordeon, und alle vier singen dazu. Dann geht die Predigt weiter. Außer uns ist kein Mensch in der Nähe. Die vier Alten haben der Stadt den Rücken zugewandt, sie predigen aufs Meer hinaus. Hinter ihnen, auf der anderen Straßenseite, versperrt die Polizei die Zufahrtsstraße zur Innenstadt mit einer rot-weißen Schranke. In Belfast hat man am Nachmittag eine IRA-Bombe gefunden.
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