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Mit 60 zum erstenmal allein in den Zoo

Wagensitz und Rollstuhl in einem: Ohne fremde Hilfe können behinderte AutofahrerInnen ein- und aussteigen. Einen ganz ungewohnten Aktionsradius eröffnet das Produkt der Behindertenwerkstatt Fürstenwalde.  ■ Von Astrid Ehring

Wenn Hannelore Winter* mit ihrem Kadett rückwärts die Garagenauffahrt des kleinen Grundstücks in Tegel herunterfährt, öffnet sich das niedrige Holztor automatisch. Elektrische Helfer braucht sie viele, um sich im Alltag unabhängig bewegen zu können. Denn die lebhafte Frau mit den grauen Haaren sitzt im Rollstuhl. Als sie sieben Jahre alt war, erkrankte sie an Kinderlähmung, seitdem sind ihre Beine kraftlos. Auto fährt sie trotzdem, schon seit 30 Jahren, aber erst jetzt als Rentnerin völlig selbständig.

Während ihres ganzen Berufslebens im Büro half immer jemand beim Ein- und Aussteigen: geregelte Arbeitszeiten – geregelte Abfahrtszeiten. Aber Hannelore Winters Wunsch, privat und spontan etwas zu unternehmen, blieb auf der Strecke. Hilfe bekam sie meistens von den Eltern, nur mußte sie sich mit denen ja immer im voraus verabreden. Da schränkte sie sich automatisch ein: „Man kann ja nicht wegen jeder Wurst, die man braucht, losfahren. Das muß man sich genau überlegen. Meine Freundin hat teilweise für mich eingekauft, oder ich hatte Geschäfte, wo man mit dem Auto ranfahren konnte und dann kamen sie raus und ich habe ihnen meinen Einkaufszettel gegeben. Es ist natürlich was ganz anderes, wenn man selber gucken kann.“

Selber gucken, das heißt rein ins Auto und raus aus dem Auto. Da erntet sie jetzt manchmal neugierige Blicke. Wenn sie ihre Autotür aufmacht, surrt es nämlich und der Autositz macht sich selbständig. An ihrer linken Seite befindet sich eine kleine Fernbedienung, mit der sie den elektrischen Lift für den Sitz, der gleichzeitig ein E-Rollstuhl ist, betätigt. An einem Greifarm wird der Sitz angehoben, bis er über die Schwelle der Autotür schwenkt. Der Rollstuhl schwebt einen Moment über der Erde, bis die vier unter der Sitzfläche versteckten Räder ausgefahren sind und sich die Rückenlehne nach einer 90-Grad-Drehung parallel zur Türschwelle befindet. Dann landet er sanft auf dem Boden: Die Einkaufstour kann beginnen.

Ein völlig neues Lebensgefühl stellt sich ein: Einfach losfahren zu können, stundenlang im Kaufhaus mit dem E-Rollstuhl, ganz allein, ohne einen Begleiter dabei, der vielleicht denken könne „so was kauft die“ oder „das kann sie sich also alles leisten.“

Sechzig Jahre mußte Hannelore Winter werden, bis sie zum erstenmal allein im Zoo war. Immer schon hat sie nach etwas gesucht, das ihr mehr Unabhängigkeit verschafft, aber erst eine Anzeige in der Zeitschrift Leben und Weg des Verbandes der Körperbehinderten machte sie auf den „Carchair“ aufmerksam. Sie griff zum Telefon und vereinbarte einen Termin in der Behindertenwerkstatt Fürstenwalde.

Den Umbau von Autos für den Rollstuhllift machen Körperbehinderte für Körperbehinderte. Die Kfz-Werkstatt der Samariterwerke ist die einzige, die dieses System anbietet. Hannelore Winter gibt zu, daß sie tage- und nächtelang gebrütet hat, ob der Carchir sich für sie lohnt. Immerhin gibt es andere, teilweise billigere Möglichkeiten. Der Carchair kostet soviel wie ein Kleinwagen. Aber da sie nicht mehr genügend Armkraft hat, um lange mit einem mechanischen Rollstuhl unterwegs zu sein, ist sie auf einen E-Rollstuhl angewiesen. Glücklicherweise ist sie nicht so groß, daß sie beim Rein- und Rausheben mit dem Kopf gegen den Türrahmen stoßen würde.

Für lange Menschen kommt der Carchair also nicht in Frage. Sie müssen sich mit teuren Großraumlimousinen anfreunden, in die man mit einer absenkbaren Rampe von hinten hineinfahren kann. In diesem Fall kostet aber allein das Auto um die 60.000 Mark. Für immerhin die Hälfte können größere Menschen auch einen Van erstehen, in den das Carchiar-System passend eingebaut werden kann.

Hannelore Winter ist relativ günstig weggekommen – trotzdem eine große Investition, die sich wohl nicht jeder leisten kann. Hätte sie noch im Berufsleben gestanden, hätte sie sogar Aussichten auf eine Übernahme der Kosten durch die Krankenkasse oder durch die BfA gehabt. Die Techniker Krankenkasse hat das System bereits in einem Fall finanziert. Allerdings sind die Bedingungen für die Übernahme der Kosten für den Carchair, einen Zuschuß von 18.000 Mark für das Auto und die Kosten des Umbaus immer von vielen persönlichen Umständen abhängig. Einklagbar ist diese Leistung nicht, die Bewilligung wird extra mit dem Stempel „nicht justiziabel“ versehen. Immerhin wird ein Drittel aller Umbauten von Privatkunden in der Fürstenwalder Umbauwerkstatt gefördert, schätzt Leiter Roland Janik.

An viele Details muß beim Umbau gedacht werden: Hannelore Winter muß Gas, Bremse und andere Hebel mit den Händen bedienen können und trotzdem immer eine Hand am Lenkrad haben. Ein medizinisch-psychologisches Gutachten legt genau fest, welche Hilfsmittel eingebaut werden müssen. Das Lenkrad selbst muß nach oben geklappt werden können, sonst käme sie mit ihrem Mischling aus Autositz und Rollstuhl seitwärts aus dem engen Fahrbereich nicht heraus.

Die Technik macht's möglich, aber viele Knöpfe bedeuten auch viel Üben für die Benutzerin. Am Anfang war Hannelore Winter sehr aufgeregt, ob denn das nun alles auch wirklich funktionieren und sie alles richtig machen würde. Schließlich muß sie auch noch so parken, daß sich die Tür öffnen läßt und Platz zum Rangieren neben dem Auto ist. Und sie muß so stehen, daß niemand ihren Wagen zuparken kann. Aber nach einem Jahr Erfahrung hat sie die Situation im Griff. Nur im Winter wird es manchmal schwierig. Wenn Schnee liegt und die Rollstuhlräder nicht richtig greifen, kann sie beim Einsteigen nicht exakt so an ihr Auto heranfahren, wie sie muß, damit sich der Rollstuhl an den Greifarm ankoppelt. Technik ist auch immer störanfällig. Hannelore Winter hat mittlerweile zu Hause eine Art Ersatzteillager.

Fiat stand schon kurz davor, den Carchair in sein Programm ab Werk aufzunehmen. Aber da auch Veränderungen an der Karosserie notwendig sein können und der Hersteller die Haftung übernehmen muß, ist noch kein Vertrag zustande gekommen. Die Fürstenwalder streben jetzt eine Zusammenarbeit mit der „Automobil- Commercial Berlin“ an, die mit 16 Autohäusern zusammenarbeitet.

Hannelore Winter ist vollkommen überzeugt von ihrem Carchair. Sie kann zum Arzt fahren oder Briefmarken kaufen. Oder sie fährt los zum behindertengerechten Postamt. Nur wenn sie eine postlagernde Sendung abholen muß, stößt sie an Grenzen. Denn dieses Postamt hat eine Treppe und keinen Fahrstuhl.

* Name von der Redaktion geändert

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