: Britische Lords kehren Europa den Rücken
Londoner Oberhaus votiert mit einer Stimme Mehrheit für den Austritt Großbritanniens aus der EU. Pro-Europäer bei Konservativen und Labour hatten die Abstimmung verschlafen ■ Von Dominic Johnson
Berlin (taz) – Das britische Oberhaus hat am späten Freitag abend in erster Lesung einen Gesetzentwurf angenommen, der den Rückzug Großbritanniens aus der EU herbeiführen soll. Der Antrag des konservativen Lord Pearson will jene Teile des britischen Parlamentsbeschlusses von 1972 über den Beitritt zur damaligen EWG rückgängig machen, die EU-Recht über nationales Recht stellen. Sollte das je Gesetzeskraft erhalten, würde Großbritannien die EU-Verträge brechen – eine Situation, die den völligen Austritt aus der EU nahelegen würde.
Nach sechseinhalbstündiger Debatte scheiterte ein Antrag der EU-freundlichen Liberaldemokraten, die zweite Lesung des Antrags um ein halbes Jahr zu verschieben und den Pearson-Entwurf damit aufgrund der bevorstehenden Wahlen effektiv zu beerdigen, denkbar knapp mit 51 gegen 52 Stimmen. Die Debatte hatte Aufmerksamkeit erregt, weil die frühere Premierministerin Margaret Thatcher erschien – sie nimmt ihren Sitz im Oberhaus nur sehr selten ein. Doch ergriff Thatcher weder selbst das Wort, noch nahm sie an der Abstimmung teil.
Lord Pearson begründete seinen Antrag damit, daß die EU Großbritannien in „Gefangenschaft“ halte. Lord Tebbit, früher Minister unter Thatcher, sagte, Pearsons Antrag würde eine „notwendige Krise“ innerhalb der EU provozieren. Es müsse endlich geklärt werden, ob die deutsch-französischen Pläne zu einem „Einheitsstaat Europa“ im Einklang mit den EU-Verträgen stünden. Nur wenn Bonn und Paris ihre vertiefte Kooperation außerhalb der EU vollzögen, könne Großbritannien in der EU bleiben.
Die Gegenseite argumentierte hauptsächlich defensiv. Lord Whitty von Labour nannte die Debatte „deprimierend“. Lord Kingsland, ehemaliger Vorsitzender der britisch-konservativen Europaparlamentarier, sagte, nur die britische Mitgliedschaft in einer sich erweiternden EU könne eine russisch-deutsche Hegemonie in Osteuropa verhindern.
In der Abstimmung wurde deutlich, daß der Streit um Europa beide großen Parteien spaltet. Von 44 abstimmenden Konservativen stimmten 35 für Pearsons Antrag und neun dagegen. Drei Labour- Oberhausmitglieder stimmten für Pearson und sechs gegen ihn.
Pearson gilt als profilierter Euroskeptiker, der schon bei der Ratifizierung der Maastrichter Verträge die Ablehnungsfront im Oberhaus anführte. Seine Haltung mag auch persönliche Gründe haben: In seiner Jugend war er mit einer Französin verheiratet, von der er sich 1970 scheiden ließ. Inzwischen hat er die Tochter eines ehemaligen Privatsekretärs der Königin zur Frau, deren Vater heute im Oberhaus sitzt und seinen Schwiegersohn jetzt kräftig unterstützte. Der Hauptredner der Gegenseite, der Liberaldemokrat Lord Traverne, war bis 1972 Labour-Abgeordneter im Unterhaus, wurde dann aber von seiner Partei fallengelassen, weil er entgegen der damaligen Labour-Linie den britischen EU-Beitritt befürwortete.
Travernes Versuch, dem Pearson-Antrag die zweite Lesung zu verweigern, scheiterte vor allem, weil Konservative und Labour es nicht für nötig hielten, ihre Fraktionen zu mobilisieren. „Die beiden großen Parteien versuchten, die Abstimmung zu boykottieren und den Antrag damit herunterzuspielen“, sagt der Oberhaus-Experte Andrew Evans. „Sie verließen sich darauf, daß die Liberaldemokraten den Euroskeptikern eins in die Fresse hauen. Aber die hatten dafür nicht genug Leute.“ Peinlich ist das auch, weil in diesen Wochen der Wahlkampf für die Parlamentswahlen beginnt, die voraussichtlich am 1. Mai stattfinden. Die Konservativen schaffen es nicht, eine einheitliche Linie zur EU zu präsentieren. Letzte Woche mußte die Parteiführung zugestehen, daß konservative Parlamentskandidaten die Europäische Währungsunion strikt ablehnen dürfen, obwohl dies der offiziellen Parteilinie widerspricht. Es wird erwartet, daß etwa 150 Kandidaten von dieser Möglichkeit Gebrauch machen werden.Kommentar Seite 10
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