: Kein Telefon, kein Licht im Flur
Alle wollen weg, einer wollte unbedingt hin: Joachim Dietz, Manager und gebürtiger Saarländer, arbeitet in der früher gesperrten Provinzstadt Pawlowo für einen russisch-amerikanischen Rüstungsbetrieb ■ Von Jana Simon
Der Hauptplatz von Pawlowo ist so groß wie ein Fußballfeld, betoniert und menschenleer. Die beiden Riesenbauten in seiner Mitte wirken wie eine vergessene Hollywood-Kulisse aus dem Kalten Krieg. Vierhundert Kilometer nordöstlich von Moskau ist die gut 30 Meter lange Tafel mit den Fotos „der Besten“ das einzige in der Stadt, was in den letzten Jahren frische Farbe gesehen hat. Heute zieht die Bevölkerung nicht mehr an den Porträts der Planübererfüller, sondern an den der erfolgreichsten Pawlower Neokapitalisten vorbei.
Das Kaufhaus gegenüber muß irgendwann einmal blau gewesen sein. In den Schaufenstern schwingt einsam eine vergilbte Werbetafel für „Florena-Creme“. Drinnen riecht es nach Möbelpolitur und russischem Parfüm. Die Verkäuferinnen stehen gelangweilt zwischen Spanplatten-Schrankwänden und Vitrinen mit Nivea-Bodylotion.
Manchmal, aber nur ganz selten, kauft hier der ehemalige Klassenfeind ein. Das ist immer noch eine kleine Attraktion. Der Deutsche, Joachim Dietz, ist der erste und bislang einzige Europäer, den es nach Pawlowo verschlagen hat. Fünfundvierzig Jahre war der Ort vom Rest der Welt abgeschnitten. Kein Ausländer durfte nach Pawlowo und kein Pawlower ins Ausland. Zu Sowjetzeiten galt hier jeder Einwohner als potentieller Geheimnisträger. Am Rand der Stadt im Werk „Sonnenaufgang“ wurden unter strengster Geheimhaltung Teile zur Flugsteuerung der sowjetischen Kampfflugzeuge MiG entwickelt und montiert.
Heute lebt der ehemalige Feind nicht nur im Ort, sondern arbeitet auch in dem einst so streng behüteten Werk. Seine Firma, das amerikanische Unternehmen „MOOG“, hat vor zwei Jahren 20 Prozent der Aktien an „Sonnenaufgang“ gekauft.
Als der 58jährige Geschäftsmann zum erstenmal nach Rußland kam, dachte er: „Auweia, die Taiga. Da ist bestimmt kein Schwein.“ Einmal angekommen, mußte er feststellen, daß diese tausend Kilometer weiter östlich liegt und sein russischer Gastgeber Boris Wassilegin, der Generaldirektor von „Sonnenaufgang“, mit seiner Familie in einer Dreizimmerwohnung lebt. Dies verleitete Dietz zu der Annahme, „daß die es mit dem Kommunismus wirklich ernst gemeint haben“.
Die Tochter Wassilegins empfing den Deutschen auf ihre Weise. Bei seinem Anblick bekam sie einen Lachkrampf. Jahrelang hatte sie in ihren Schulbüchern fette Kapitalisten mit Glatze und Zigarre im Mundwinkel betrachtet. Über Dietz' ausreichende Haarpracht und schlankes Äußeres war sie mehr als erstaunt.
Etliche Wodka später waren Dietz und Wassilegin Freunde. Daß sie noch vor kurzem Waffen produziert hatten, die im Ernstfall gegeneinander eingesetzt worden wären, störte sie wenig. „Menschlich ist das kein Problem. Natürlich arbeite ich jetzt mit dem alten Feind zusammen. Aber als Geschäftsmann nimmt man die Opportunitäten halt so, wie sie kommen“, erklärt Dietz lächelnd.
Für Wassilegin, dessen Tätigkeit früher so geheim war, daß nicht einmal sein Foto an der Ehrentafel hängen durfte, ging es ums Überleben. Ohne westlichen Partner hätte er seine Fabrik schließen können. Allerdings ist er heute nicht mehr Direktor, sondern wie es neurussisch heißt, „Chef für Marketing“. In seinem Wohnzimmer sitzt er inmitten von sowjetischen Orden, jeder Menge flauschiger russischer Wandteppiche und Jagdhunden aus Porzellan und findet, daß „früher alles besser war. Da gab es noch Licht im Treppenflur.“ In seinem Schlafzimmer hängt ein Poster von Sylvester Stallone. Dietz hat es ihm einmal geschenkt.
Der Deutsche fand das Leben in Rußland „so angenehm“, daß er vor zwei Jahren ganz nach Pawlowo umsiedelte. Nach zwanzig Jahren Paris, Amerika und den Philippinen entschied der graumelierte Saarländer: „Kristall im Schrank und so, das kennt man alles irgendwann.“ Deshalb tauschte er sein komfortables Haus in Neuenkirchen gegen eine Zweizimmerwohnung im arg mitgenommenen Plattenbau. Die Einrichtung unterscheidet sich kaum von der seiner russischen Nachbarn – Schäferhund-Kalender, Couchgarnitur und Kunstholz-Schrankwand statt edlem Geschirr und Stilmöbeln.
Mit glänzenden Augen erzählt er, daß das Telefon letzte Woche, gestern, ja und auch heute ausgefallen wäre. Wasser gäbe es auch manchmal wochenlang nicht, aber das sei alles kein Problem: „Im Sommer kann ich mich ja im Fluß waschen.“
Wild gestikulierend erklärt er, warum ein wohlhabender Spitzenmanager sich nicht in seine hübsche Villa zurückzieht und den Lebensabend genießt, sondern lieber jeden Tag durch einen einsturzgefährdeten Hausflur zur Arbeit geht und Freude daran findet, stundenlang nach einem funktionierenden Münzautomaten zu suchen: „Zu Hause wird immer nur über Aktienkurse und Zinssätze geredet. Hier kann ich mich über Beethoven und Puschkin unterhalten.“
Seine deutschen Freunde und seine Familie teilen seine Begeisterung für Rußland und die Russen nicht. Seine Tochter sollte diesen Sommer kommen, aber sie hätte Bali dem wilden Osten vorgezogen, erzählt er. Von seiner Frau ist er seit 1992 geschieden. Sein Bruder war bisher der einzige, der ihn einmal besucht hat: „Er war so geschockt von dem Treppenhaus, daß er einen ganzen Nachmittag deprimiert auf dem Sofa gesessen hat.“ Im Mai riefen ihn Bekannte aus Paris an, die sich besorgt erkundigten, ob denn bei ihm noch Schnee läge. „Dabei waren hier 25 Grad“, amüsiert sich Dietz. Wenn er in seinem weißen Wolga die staubigen Straßen entlangfährt oder im Designeranzug über den Wochenmarkt schlendert, verstummen die Gespräche der Einheimischen, und Scharen von Kindern folgen ihm nicht gerade unauffällig. Deren Eltern tragen Polyesterhosen und sind arbeitslos oder im Zwangsurlaub. Viele der ehemaligen Staatsbetriebe arbeiten nur noch auf Sparflamme, 40 Prozent der Pawlowoer sind arbeitslos. Und nur auf dem Wochenmarkt können sie sich zu ihrem Lohn (durchschnittlich 200 Mark im Monat) noch etwas dazuzuverdienen. Ehemalige Abteilungsleiter verkaufen Plastiktüten und eingelegte Gurken. Die Sekretärin von Dietz bietet nach Arbeitsschluß Socken und Unterwäsche an.
Zu Sowjetzeiten war Pawlowo ein Vorzeigestädtchen und wurde wegen der Militärbetriebe bevorzugt versorgt. Gut ausgebildete Fachkräfte sollten angelockt und in der Stadt gehalten werden. Deshalb kam auch die Familie Bykonow vor zwei Jahrzehnten hierher. Swetlana Bykonow, eine energische Rothaarige, ist Biologin und wartet schon seit zwei Monaten auf ihr Gehalt. Umgerechnet 250 Mark bekommt sie. Das reicht gerade so zum Leben, aber nicht für eine Reise: „Früher durften wir nicht ins Ausland. Heute können wir es uns nicht leisten“, sagt sie verbittert. Die 38jährige würde abends gern ausgehen, „aber es verfällt ja alles. Es gibt nicht einmal ein Restaurant.“
Der ehemalige Vergnügungspark ist verwildert. Dem Riesenrad wurde der Motor geklaut, und das Freilichttheater sieht aus, als wäre in ihm der Endzeitstreifen „The day after“ inszeniert worden. Inmitten der Verwüstung liegt eine eiserne Schatulle. Dort hat 1968 die Jugendorganisation der Komsomolzen einen Brief für die Nachwelt hinterlassen. Zu ihrem hundertjährigen Jubiläum im Jahr 2018 sollte er feierlich geöffnet werden. Nach ihren Berechnungen hätte dann der Aufbau der kommunistischen Gesellschaft erfolgreich abgeschlossen sein sollen. Der dreizehnjährige Sohn von Swetlana, Sergej, hat schon jetzt nur noch vage Vorstellungen von den Komsomolzen: „Die haben an Lenin geglaubt und ihm gedient.“
Die Haushälterin von Dietz, Evilina, träumt dagegen von der Vergangenheit. Zweimal im Monat hätte sie Gehalt bekommen, erzählt sie, als sie noch als Ingenieurin bei „Sonnenaufgang“ arbeitete. Nach der Privatisierung mußte die 56jährige gehen. Heute macht sie für 150 DM den gesamten Haushalt für Dietz – kochen, waschen, putzen.
Ihr Arbeitgeber hat seine eigene Theorie für das Scheitern der Kommunisten: „Deren Fehler war, daß sie davon ausgegangen sind, die Menschen seien gut. Ich gehe davon aus, daß sie schlecht sind.“ Das amerikanische Verteidigungsministerium handelte nach der gleichen Devise und überprüfte, ob Dietz nicht schon früher öfter in der Sowjetunion war. Schließlich produziert seine Firma neben Steuerungen für Kampfflugzeuge auch Teile für amerikanische Panzer, Bomber und Raketen.
Das Werk wird auch heute noch streng bewacht. Stacheldraht, hohe Mauern und 200 Posten sollen „Sonnenaufgang“ vor fremden Eindringlingen schützen. Bislang hat jedoch noch niemand versucht, von außen die Rüstungsfestung einzunehmen. Nur einmal wollte ein betrunkener Werksangestellter von innen über die Mauer klettern. Die Wachhabenden hinderten ihn am Ausbruch und schossen ihm ins Bein.
Dietz gibt als einziger Auskunft, was im Inneren des Werkes vor sich geht: „Momentan produzieren wir hier zusammen mit den Russen Teile für die Flugsteuerung des Kampffliegers SU-37.“ Sie seien für den Export nach China bestimmt. Für ihn sei das kein Problem, er sei nur „ein kleines Licht“, die hohe Politik werde woanders gemacht, sagt er. „Wenn ich mir zu viele Gedanken machen würde, könnte ich nicht mehr arbeiten. Dann müßte ich überlegen, ob uns die Teile, die wir jetzt nach China verkaufen, nicht irgendwann wieder auf den Kopf fallen.“
Für Lena Maissowa sind diese neuen Allianzen unvorstellbar. Ihr ganzes Leben hat sie bei „Sonnenaufgang“ gearbeitet – zu den Zeiten, in denen Freund und Feind noch klar voneinander zu unterscheiden waren. Jetzt ist sie Rentnerin. In ihrem 70jährigen Leben war sie nicht einmal außerhalb der Grenzen der ehemaligen Sowjetunion. Heute muß sie mit 80 DM im Monat auskommen. Maissowa wohnt in einem Neubau direkt am Fluß Oka. Dort sammeln sich am Abend Tausende von Eintagsfliegen an den Zimmerdecken. Jeden Morgen saugt sie sie mit dem Staubsauger ab. „Mein Leben ist vorbei. Doch was wird aus den jungen Leuten?“ fragt sie.
Die wollen nichts wie weg aus Pawlowo. Es gibt keine Cafés, nur das Kino „Spartak“, das seit Jahren denselben Film zeigt. An einer verrosteten Bushaltestelle hat ein Unbekannter seinen Traum vom Westen festgehalten: „McDonald's“ steht dort in großen weißen Lettern. Doch daß der Burgerriese hier einmal BigMac's und Apple- pie verkaufen wird, ist ungefähr so wahrscheinlich, als würde man darauf warten, daß Lenin aus seinem Mausoleum herausspaziert. Sergej bringt das Gefühl seiner Generation auf den Punkt: „Hier ist doch nichts los. Ich gehe später nach Moskau. Da habe ich mehr Möglichkeiten.“
Seinen Freunden und ihm bleibt am Abend nur der Fernsehapparat. Die Stadt wirkt gespenstisch, sobald es dunkel ist. Kein Licht, weder auf der Straße noch in den Hausfluren, funktioniert. Nur das Gebell obdachloser Hunde und das Lallen von Betrunkenen ist zu hören. Die spärlichen Lichtkegel, die aus den Wohnzimmerfenstern dringen, bieten die einzige Orientierung.
Zu dieser Tageszeit bevorzugt auch Joachim Dietz dann doch die Ferne. Über die schwimmende Panzerbrücke läßt er sich dann zur Oper ins sechzig Kilometer entfernte Nischni-Nowgorod chauffieren.
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