: Die Angst trieb zur Höchstleistung an
Neues Aktionsbündnis fordert sofortige Entschädigung für ehemalige Siemens-ZwangsarbeiterInnen ■ Von Monika Hinner
Berlin (taz) – „Wir gehören zur Familie“ – mit diesem Slogan wirbt die Siemens AG für Kühlschränke und Küchengeräte heute. Nur ungern erinnert sich der Elektroriese dagegen an die „Familienangehörigen“, die er während des Zweiten Weltkriegs zwangsweise beschäftigte. „Noch immer weigert sich Siemens, sich ihrer Verantwortung für den Einsatz von KZ-Häftlingen und ZwangsarbeiterInnen zu stellen“, heißt es in der gestern in Berlin veröffentlichten Stellungnahme eines neuen Antifa-Aktionsbündnisses „150 Jahre Siemens – Entschädigung jetzt“. Das Bündnis fordert die sofortige Entschädigung der Siemens-ZwangsarbeiterInnen und will bei der Aktionärsversammlung am Donnerstag in Berlin protestieren.
Siemens lehnt eine Entschädigung auch im 150. Jahr seines Bestehens, dem Jubiläumsjahr, ab. „Die Entschädigung der ZwangsarbeiterInnen ist grundsätzlich Sache des Staates“, erklärte Firmensprecher Enzio von Kühlmann- Stumm. Siemens sei vom NS-Staat zum Einsatz von ZwangsarbeiterInnen gezwungen worden und die Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin haftbar zu machen. Dieses Argument ist nicht neu.
Zuletzt setzte es das Unternehmen in dem Prozeß ein, den Waltraud Blass 1990 erfolglos gegen Siemens angestrengt hatte. Sie war bei dem an das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück angegliederten Siemens-Werk zwangsbeschäftigt. Ihre Anwälte brachten während des Prozesses vor, daß sich Siemens selbst um ZwangsarbeiterInnen bemüht habe.
Zu diesem Schluß kommt auch der Historiker Karl Heinz Roth. In seinem 1996 erschienen Beitrag „Zwangsarbeit im Siemens-Konzern“ schreibt er zur Politik des Unternehmens im Nationalsozialismus: „Es agierte keineswegs als Nachzügler, sondern gehörte zu einer bis dahin noch ziemlich kleinen Gruppe öffentlicher und privater Unternehmen, die die Zwangsverhältnisse in allen ihren Schattierungen als eine positive Herausforderung ansahen.“
Die historische Forschung hat mittlerweile folgende Fakten ans Tageslicht befördert: Seit dem Frühjahr 1940 setzten die Stammgesellschaften und Vorläufer der heutigen Aktiengesellschaft, Siemens & Halske sowie Siemens- Schuckertwerke, mit als erste Unternehmen jüdische ZwangsarbeiterInnen ein. Als „Leistungsstachel besonderer Art“, so Karl Heinz Roth, nutzten Betriebsingenieure und Meister die Angst der Menschen vor der Deportation. Im August 1942 nahm Siemens dann die Rüstungsproduktion in eigens beim Frauenkonzentrationslager Ravensbrück errichteten Werkhallen auf.
Im Begleitband der Firmenausstellung zum Jubiläum liest sich das so: „Kriegswichtige Fertigungen waren in solche Gebiete verlegt worden, die vom Luftkrieg nicht betroffen waren und in denen Arbeitskräfte, insbesondere Frauen, in ausreichender Zahl zur Verfügung standen.“ Der Index der Jubiläums-CD-ROM mit dem Titel „Visionen werden Wirklichkeit“ weist zwar die Begriffe „Winnetou“ und „Woodstock“, nicht aber „Zwangsarbeit“ oder „Konzentrationslager“ aus. „Eine absolut geschönte Firmengeschichte“, bemerkt die Frankfurter Historikerin Ursula Krause-Schmitt. Kritische ForscherInnen wie sie haben es schwer bei Siemens, im Gegensatz zu Daimler-Benz und VW, die ihre Archive geöffnet haben.
Unter welchen Bedingungen die Frauen in Ravensbrück schufteten, haben ehemalige Häftlinge wie die Belgierin Rita Guidon berichtet. Nach der zwölfstündigen Schicht mußten Tausende von Frauen den langwierigen Zählappell buchstäblich durchstehen.
Für die Siemens-Zwangsarbeiterinnen wurden Diagramme über ihre Arbeitsleistung angelegt. Konnten sie die geforderte Leistung nicht erbringen, drohte ihnen Kostentzug, Strafe-Stehen, Arrest oder der Strafblock im Lager. Das „erfolgreiche Experiment Ravensbrück“, erläutert das Aktionsbündnis, weitete Siemens in den Folgejahren aus. 1943 waren nach Angaben von Roth mehr als 30 Prozent von 200.000 ArbeiterInnen zwangsweise bei Siemens beschäftigt.
Bis heute ist Zwangsarbeit gesetzlich nicht als entschädigungswürdiges NS-Unrecht anerkannt. Nach dem Londoner Schuldenabkommen und dem Bundesentschädigungsgesetz, beide aus dem Jahre 1953, werden vom Staat ausländische ZwangsarbeiterInnen gar nicht, deutsche nur für den Freiheitsentzug als KZ-Häftlinge entschädigt. „Ein untragbarer Zustand“, sagt Volker Beck, rechtspolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag. Seine Partei wolle in diesem Jahr beantragen, eine Bundesstiftung „Entschädigung für Zwangsarbeit“ einzurichten, an der sich die deutsche Industrie zur Hälfte beteiligen soll. Beck sagte gestern zum geforderten Stiftungsumfang, er gehe von einem Betrag „von einer Milliarde Mark aufwärts“ aus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen