piwik no script img

Verkündigungen eines Atheisten

■ Gutgelaunter Gottesdienst: Eine Arno-Schmidt-Lesung mit Joachim Kersten und Jan Philip Reemtsma in den Kammerspielen

Dafür, daß sein Name schon zu Lebzeiten mit mythologischen Zügen behaftet war, schuftete Arno Schmidt sich letztlich zu Tode. Aus der Überzeugung, künstlerisch unterbewertet und -privilegiert gewesen zu sein, speiste sich ein Großteil seiner selbstdisziplinarischen Arbeitsmoral, die sich zur notorischen Selbststilisierung als miesepetrig-verkanntes Genie auswuchs.

Daß der Mythos Arno Schmidt auch 18 Jahre nach seinem Tod noch floriert, bewies die gestrige Abschlußveranstaltung der Lesereihe Dichter aus Hamburg. Zahlreich strömte die Anhängerschaft des in Hamburg-Hamm geborenen Kultautoren in die Kammerspiele, um der sonntagmorgendlichen – also quasi-gottesdienstlichen – Verkündigung aus dem Werk des passionierten Atheisten beizuwohnen.

Daß dem Rezitatorenduo neben Joachim Kersten auch Jan Philip Reemtsma angehörte, mag ebenfalls ein Motiv fürs Erscheinen gewesen sein. Dies aber wohl weniger, um ein prominentes Opfer der jüngeren Kriminalhistorie voyeuristisch zu begucken, als um den Vortrag eines ausgewiesenen Schmidt-Kenners zu verfolgen. Als solcher hatte Reemtsma 1977 begonnen, den misanthropischen Dichter mäzenatisch zu sponsorn.

Das Verdienst, das Reemtsma damit für die Werkgeschichte Arno Schmidts geleistet hat, würdigte auch Matthias Wegner in seiner Einleitung in Vita und Werk des Schriftstellers. Die anschließend verlesenen Texte wurden von Reemtsma und Kersten ebenfalls mit der Biographie Schmidts verknüpft. Damit verdeutlichten die Auszüge aus Erzählungen und Romanen, darunter natürlich auch ausgesuchte Passagen mit Hamburg-Bezug, zugleich das grundlegend biographische Gepräge des Schmidtschen ×uvres.

Die Lesung selbst wurde dem idiosynkratischen Charakter der Prosa Schmidts überaus gerecht. Vor allem der Vortrag Joachim Kerstens vermochte mit angemessener Dosierung von Engagement und Distanziertheit zu überzeugen und das Publikum in gespannte Gutgelauntheit zu versetzen. Die scharfkantige Ironie der komprimiert-verhackstückten Sprachkunst des „Hobby-Berserkers“ (Dieter E. Zimmer) und erkenntnisreiche Zitate wie „Die Mentalität meiner Eltern war gruselig“ wirkten aber bereits selbstgängerisch in Richtung gesteigerte Unterhaltung.

Die Veranstaltung schloß mit der Einspielung einer zackig-peniblen Eigenlesung des Meisters selbst, Nebenberuf Dichter. Die Gemeinde hatte indes die literarischen Früchte des hochhauptberuflichen Poeten kollektiv genossen und damit zumindest für eineinhalb Stunden vergessen, was Arno Schmidt so formulierte: „Natürlich wohnt jeder allein hinter seinem Gesichtsfleisch.“

Christian Schuldt

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen