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Karneval auf der „Armutsinsel“

Mit Kamelle und Pappnasen gegen die Krise von Wilhelmsburg: Närrischer Demonstrationszug im Vorzeichen der Bürgerschaftswahl  ■ Von Elke Spanner

„Gleich geht's hier rund“, frohlockt ein wohlbeleibter Herr im Mönchsgewand und schwingt sein selbstgenageltes Holzkreuz. Hinter ihm ziehen „Kanthers Kinder Hunters“ auf: Ein mobiler Drahtverschlag, in dem rund zehn Kinder gefangen und von Soldaten bewacht werden. Trotz ihres schweren Schicksals werfen die Kids fröhlich Bonbons vom Wagen: Karneval in Wilhelmsburg. Mit Pappnasen, dekorierten Wagen und politischen Transparenten zogen mehrere hundert WilhelmsburgerInnen am Sonntag durch ihren Stadtteil, „um ihn aus der Krise rauszuholen.“

In alter Karnevalstradition will das Forum Wilhelmsburg, Organisator der karnevalistischen Demonstration, „den Regierenden auf die Finger schauen.“ Lange genug nämlich, so erläutert Liesel Amelingmeyer, hätten diese an den Interessen des Stadtteils und seiner BewohnerInnen vorbeiregiert: Hohe Arbeitslosigkeit, der Wegzug der erwerbstätigen Bevölkerung und Perspektivlosigkeit für die dort lebenden MigrantInnen seien die Folge. Auf der „Armutsinsel“ werde die Politik an der Wirtschaftlichkeit des Hafens orientiert, nicht aber an den Bedürfnissen der BewohnerInnen.

Nach dem Ergebnis der Bürgerschaftswahl 1993, bei der 45 Prozent der WilhelmsburgerInnen gar nicht erst wählten und 15,9 Prozent der Wählerstimmen an REPS und DVU gingen, gründete sich das Forum, um „die Abwärtsspirale“ zu stoppen. Verhindern will man, daß die BewohnerInnen die Elbinsel scharenweise verlassen. Dafür müsse die Fehlbelegungsabgabe für den Stadtteil abgeschafft werden: „In Wilhelmsburg liegen alle ohnehin nur knapp über dem Sozialhilfesatz“, so Amelingmeyer. „Wer ein geringes Auskommen hat und dennoch die Fehlbelegungsabgabe zahlen muß, zieht lieber gleich aus dem Viertel weg.“ Zum größten Teil fliehen erwerbstätige WilhelmsburgerInnen von der „Armutsinsel“. In die Sozialwohnungen, die rund 70 Prozent aller Wohnungen ausmachen, würden dann ausschließlich einkommensschwache Menschen nachziehen.

Parallel dazu müßten Qualifizierungsmaßnahmen ergriffen und Arbeitsplätze geschaffen werden. Rund 40 bis 50 Prozent aller BewohnerInnen, und damit jedes vierte Kind, gelten als arm. Das Forum verlangt daher die Einrichtung eines runden Tisches, um eine Beschäftigungsoffensive zu starten.

Nun soll der Senat angesichts des anstehenden Bürgerschaftswahlkampfs endlich einmal „seinen Blick auf Wilhelmsburg richten.“ Dennoch guckt das von Stadtteilinitiativen und Einzelpersonen getragene Forum auch über den eigenen Tellerrand hinaus: Im Karnevalszug wurde gestern auch ein Krankenbett durch die Innenstadt von Wilhelmsburg gezogen. Ein eindeutiges Votum der Elbinsel-BewohnerInnen für den Erhalt des Hafenkrankenhauses auf St. Pauli.

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