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Routinemäßige Verseuchung

Erhebliche Gefährdung durch geplantes Endlager. Die Betreiberfirma Nirex wird sich wohl einen neuen Standort suchen müssen  ■ Aus Dublin Ralf Sotschek

Eine Überraschung ist es wohl kaum: Hummer, Muscheln und Garnelen, die in der Nähe der englischen Plutoniumschleuder Sellafield gefangen werden, weisen erhöhte Radioaktivität auf. Verblüffend ist jedoch das Ausmaß. Bei Routineuntersuchungen kam ans Licht, daß die Tiere das 14fache der zulässigen Menge an Technetium-99 (Tc-99) enthalten. Erlaubt sind laut EU-Vorschriften bis zu 1.250 Becquerel pro Kilogramm. Gemessen wurden bei den Sellafield-Hummern 17.000 Becquerel.

Betroffen ist nicht nur das Gebiet in unmittelbarer Nähe der Atomanlage, sondern die gesamte Küste bis hoch zum Solway Firth in Schottland und sogar bis zur Dubliner Bucht auf der anderen Seite der Irischen See. Das Tc-99 stammt aus einer Anlage, die 1993 in Betrieb genommen wurde. Sie soll dem bei der Wiederaufarbeitung anfallenden Müll das Plutonium und Cäsium entziehen. Da man bei der Entwicklung der 168 Millionen Pfund teuren Anlage das Tc-99 trotz einer Halbwertzeit von 100.000 Jahren als ungefährlich einschätzte, sparte man sich weitere Kosten für die Entsorgung und kippte es einfach ins Meer.

Trotz der hohen Tc-99-Werte werden Hummer und andere Meerestiere weiterhin an Restaurants verkauft. Die Begründung: Bei der Einleitung des Isotops ins Meer handle es sich ja nicht um einen Unfall, sondern um eine routinemäßige Aktion. Martin Forwood von der Anti-Atom-Organisation Core sagte: „Bis man das Problem im Griff hat, darf kein Tc-99 mehr ins Meer geschüttet werden.“ Die Umweltbehörde drückt es etwas vorsichtiger aus: Man will den „radioaktiven Ausstoß so weit wie irgend möglich senken“, sagte eine Sprecherin. Das britische Landwirtschaftsministerium schlägt dagegen eine Patentlösung vor: Die Europäische Union soll die Beschränkungen für Radioaktivität in Lebensmitteln lockern.

Der Atommüll ist längst zum Alptraum für Industrie und Politiker geworden. Mit dem geplanten Endlager tief im Felsen von Cumbria wird es nun wohl auch nichts: Selbst die Betreiberfirma Nirex glaubt nicht mehr daran. In einem Brief des wissenschaftlichen Direktors John Holmes, der dem Bezirksrat der Grafschaft Cumbria zugespielt wurde, heißt es: „Ich habe das Gefühl, daß es uns schwerfallen wird, unsere Argumente für das Endlager durchzusetzen.“ Es gebe verschiedene Optionen, schreibt Holmes weiter: die Computer-Kalkulationen zu verändern, damit das Projekt in besserem Licht erscheint – oder die ganze Sache abzublasen. Doch wohin dann mit den 60.000 Kubikmetern hochradioaktiven Mülls? In den achtziger Jahren mußte man wegen des Drucks der Öffentlichkeit schon zweimal die Pläne für Endlager aufgeben.

Der Cumbria-Bezirksrat verlangte, die öffentliche Untersuchung nun erneut zu eröffnen. Die britische Regierung wollte das Ergebnis der bisherigen Untersuchung vorsichtshalber erst nach den Wahlen bekanntgeben. Umweltminister John Gummer gab sich überrascht. Er habe nicht gewußt, daß Nirex an der Sicherheit ihres eigenen Projekts zweifelt.

Dabei gab es Warnungen. Geologen der Universität Glasgow haben kurz vor Weihnachten prophezeit, daß die ersten Lecks schon in 40 Jahren auftreten könnten. Die 14 Wissenschaftler wiesen auf grundlegende Fehler bei der Planung des Endlagers hin. Darüber hinaus betonten sie, daß sie die Betreiberfirma Nirex bereits Anfang 1994 darauf hingewiesen und die Bedenken anhand eines simulierten Lecks an einem Modell demonstriert haben. „Jeder weiß, daß die Gezeiten mit der Anziehungskraft des Mondes zusammenhängen“, sagte der Geophysiker David Smythe. „Auch der feste Boden bewegt sich aufgrund derselben Kräfte.“ Dadurch würden Risse an den Bautunneln und Schächten entstehen, die Nirex „angeblich versiegeln will“.

Die irische Regierung hat Beschwerde bei der Europäischen Kommission eingelegt, weil Nirex gegen den vorgeschriebenen „Umwelt-TÜV“ verstoßen habe: Das Unternehmen hat nicht bekanntgegeben, ob Alternativstandorte geprüft worden sind. Zwar hat die Sellafield-Betreiberfirma British Nuclear Fuels (BNFL) bei einer Konferenz in Drogheda nördlich von Dublin im vorigen Monat erklärt, daß „ein größerer Atomunfall aufgrund der Sicherheitskontrollen unmöglich“ sei, doch an der irischen Ostküste hat man allen Grund, den Beteuerungen der britischen Atommafia zu mißtrauen.

Als im Oktober 1957 in Windscale – wie Sellafield damals hieß – ein Feuer ausbrach, hielt die britische Regierung den Unfall 30 Jahre lang geheim. Und auch danach spielte sie die Katastrophe herunter. Folge war, daß Cäsium-verseuchte Milch von Kühen, die an der irischen Ostküste geweidet hatten, in die Nahrungskette gelangte. Besonders betroffen war die Grafschaft Louth. Bisher war man davon ausgegangen, daß acht Mädchen, die damals Grundschulen in der Gegend besuchten, später Kinder mit Down-Syndrom zur Welt brachten. Neue Untersuchungen haben ergeben, daß die Zahl bei 24 liegt – ein Wert, der außerhalb jeder Statistik liegt.

David Coulston, Direktor für Gesundheit und Umwelt bei BNFL, erklärte auf der Drogheda-Konferenz, er esse „gerne Fisch aus der Irischen See“, und fügte hinzu: „Die Wahrscheinlichkeit eines größeren Unfalls in Sellafield ist genauso hoch wie die eines Zusammenstoßes zweier Jumbo-Jets über dem Wembleystadion während des englischen Pokalfinales. Mit anderen Worten: Es wird nicht passieren.“ Die gleichen Versicherungen hatten Coulstons Vorgänger in den 50er Jahren gegeben.

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