: Ein Platz in der Gesellschaft
■ Auf der Suche nach dem Königsweg: Kriminalisten und Juristen debattierten über Alternativen im Jugendstrafrecht
Die Strafmündigkeit für Jugendliche soll nicht wie bisher mit 14, sondern im Alter von 16 Jahren beginnen. Diese Entschärfung des Strafrechts hat der Hamburger Jugendrichter Achim Katz beim „Forum Kriminalpolitik“ in der Evangelischen Akademie gefordert. „Wir brauchen Alternativen zum Freiheitsentzug“, sagte der Jugendrichter in der Diskussion zum Thema „Jugend und Gewalt: Kann das Strafrecht helfen?“.
Ein Opfer der Jugendkriminalität ist gerade beerdigt worden: Ein Berufsschüler aus dem Stadtghetto Neuwiedenthal hatte sich am vergangenen Freitag vor die S-Bahn geworfen. Eine Bande Heranwachsender soll den 17jährigen Mirco mehrfach erpreßt haben (taz berichtete), sieben von ihnen wurden festgenommen. Weitere Opfer der Jugendgang fanden daraufhin den Mut, sich bei der Polizei zu melden.
In den vergangenen Jahren wird den Heranwachsenden eine erhöhte Gewaltbereitschaft und eine neue Qualität der Rücksichtslosigkeit nachgesagt. Das Podium in der Evangelischen Akademie konnte sich nicht einigen, ob sich dieser vermeintliche Trend statistisch nachweisen läßt. „Nicht nur die Zahlen, auch die tägliche Erfahrung zeigt, daß die Jugendkriminalität steigt“, betonte Lothar Bergmann, Vorsitzender der Hamburger Gewerkschaft der Polizei. Rund 28 Prozent aller Straftaten sollen demnach auf das Konto der unter 21jährigen gehen.
Bergmann führte die Entwicklung auf die Zersplitterung „anheimelnder gesellschaftlicher Gruppen und Milieus zurück, die den Menschen früher ein Stück Heimat geboten haben“. Für den Schweriner Generalstaatsanwalt Alexander Prechtel stellt sich die Situation ähnlich gravierend dar: Alkohol, Anspruchsdenken und fehlende Freizeitangebote hätten dazu geführt, daß es immer mehr Opfer von Jugendgewalt gebe, die geschützt werden müßten.
Jugendrichter Katz kann im Gegensatz dazu keine Steigerung der Jugendkriminalität ausmachen. Allerdings habe die öffentliche Diskussion der vergangen zwei Jahre zu einer erhöhten Anzeigebereitschaft der Bevölkerung und einem verstärkten Ermittlungsdruck bei der Polizei geführt. Da es sich häufig um in der Gruppe auftretende Mehrfachtäter handele, fließen die Heranwachsenden bei der Aufklärung einer Einbruchsserie gleich dutzendweise in die Kriminalstatistik ein.
Oft handeln die Jugendgangs, die nicht zufällig aus Großsiedlungen wie Kirchdorf-Süd oder Neuwiedenthal kommen, aus dem Gefühl von Ohnmacht und fehlendem Selbstwert heraus. „Die Schere zwischen gesellschaftlich vorgegebenen Model-Lebensläufen und schichtbedingten Chancen auf Verwirklichung des eigenen Lebenszieles geht immer weiter auseinander“, sagte der Jugendrichter.
Haftstrafen, so der ehemalige Jugendstaatsanwalt, verfehlten bei Jugendlichen in der Regel ihr Ziel. Jugendliche bräuchten daher vor allem einen Chance auf einen Platz in der Gesellschaft und eine Perspektive. Lisa Schönemann
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