VERBRECHEN DER WEHRMACHT

■ Aus dem Aufsatz „Killing Fields“ über die Verbrechen der Wehrmacht in Weißrußland 1941 Von Hannes Heer

In einem Bericht zur Judenfrage vom 23. Januar 1942, in dem der Mord an 9000 Juden mitgeteilt wird, beklagt der Gebietskommissar von Slonim, Gerhard Erren, den nachlassenden Eifer der Truppe. „Das flache Land wurde eine Zeitlang großzügig von der Wehrmacht gesäubert; leider nur in Orten unter 1000 Einwohnern.“ Etwas später übt auch sein Chef Wilhelm Kube, der Leiter der Zivilverwaltung im besetzten Weißrußland, in einem Schreiben vom 31. Juli 1942 Kritik an der Wehrmacht: „Durch einen bereits berichteten Übergriff des Rückwärtigen Heeeresgebietes sind die von uns getroffenen Vorbereitungen für die Liquidierung der Juden im Gebiet Glebokie gestört worden. Das Rückwärtige Heeresgebiet hat, ohne Fühlung mit mir zu nehmen, 10.000 Juden liquidiert, deren systematische Ausmerzung von uns sowieso vorgesehen war.“ Indem der eine kritisiert, daß die Truppe nur den kleinen Holocaust praktiziert habe, und der andere ihr vorwirft, daß sie sich eigenmächtig die Lorbeeren des großangelegten Massakers aneigne, bestätigen doch beide, daß auf die Wehrmacht beim Judenmord zu rechnen ist. (...)

Am 30. Januar 1939 hatte Hitler im Berliner Reichstag für den Fall einer nochmaligen Weltkrieges prophezeit, daß „das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein (wird), sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“. Als er nach zwei Jahren Krieg, am 30. März 1941, vor den versammelten Kommandeuren und Stabschefs den bevorstehenden Feldzug gegen die Sowjetunion als „Kampf zweier Weltanschauungen“ charakterisierte und als Ziel die „Vernichtung der bolschewistischen Intelligenz“ benannte, da dürfte das für keinen der kommandierenden Ostkrieger ein Widerspruch gewesen sein. ...)

Die am 22. Oktober nach Osten vorrückenden deutschen Angriffskeile hinterließen im eroberten Gebiet kein Vakuum, sondern ein dichtes Netz von Orts- und Feldkommandanturen. Es waren die ersten Institutionen der deutschen Besatzungsherrschaft. Zu ihren Aufgaben gehörte – neben der Wahrnehmung der Verwaltung, der Förderung der Wirtschaft, der ärztlichen Seuchenvorsorge und der Versorgung der eigenen Truppe die „Befriedung“ des ihnen zugewiesenen Gebietes. Das hieß – laut Lagebericht eines Feldkommandanten – „a) Erfassung der Beute, insbesondere sämtlicher Handfeuerwaffen, b) Verhaftung der Partisanen, c) Sicherstellung der Juden, d)Stimmung der Bevölkerung, e) Minenfelder, f) Kriegsgefangene“. Die Juden galten also – nach den Partisanen – als zweitwichtigste Feindgruppe. Ihre „Sicherstellung“ gehörte zu den normalen Aufgaben der Besatzungstruppen. Was darunter zu verstehen war, verrieten die ersten Anordnungen des obersten Befehlshabers im rückwärtigen Heeresgebiet Mitte. Vor dem Beginn des Feldzuges, mit bürokratischer Genauigkeit von der Heeresführung erarbeitet – wie gleichlautende Befehle in der Ukraine und im Baltikum nahelegen – erschienen sie in Weißrußland nach dem Fall der Hauptstadt Minsk am 7. und 13 Juli. Sie verfügen die allgemeine Registrierung, die Kennzeichnung der Juden mit einem gelben Stern oder Lappen, das Verbot für Juden, einen Deutschen zu grüßen, ihre Umsiedlung in spezielle jüdische Wohnbezirke und die Bildung von Judenräten. Wiederholte Kontributionen und die sofortige Einführung der Zwangsarbeit waren offensichtlich so selbstverständlich, daß es dazu keiner zentralen Befehle bedurfte. Das Leben hunderttausender Juden hatte sich also mit dem Erscheinen der deutschen Truppen von einer Stunde auf die andere dramatisch verändert. In einer Anordnung des Feldkommandanten von Minsk, die als Flugblatt und Maueranschlag am 19. Juli überall in der zerbombten Stadt erschien, wurde diese neue Wirklichkeit definiert: „Mit dem Datum der Anordnung wird ein jüdischer Wohnbezirk in Minsk geschaffen. ... Ein Verweilen außerhalb des ihnen zugewiesenen Wohnbezirks ist den zu Arbeitskolonnen zusammengefaßten Juden verboten.“ Das Ergebnis war eine total erfaßte, besitz- und rechtlose, der Besatzungswillkür unterworfene jüdische Bevölkerung. Im westlichen Teil Weißrußlands blieb die Wehrmacht zwei Monate lang Herr der Ghettos, bis die Zivilverwaltung im Oktober die übriggebliebenen Arbeitssklaven übernahm. Im östlichen Teil, dem Rückwärtigen Heeresgebiet Mitte, währte das Wehrmachtsregiment fast ein Jahr, bis die Kommandos der Einsatzgruppe B das letzte Ghetto geräumt hatten. (...) Die Wehrmacht hat dem osteuropäischen Judentum den „ersten Schlag“ versetzt. sie hat den einzelnen Juden depersonalisiert und entwürdigt und damit Hunderttausende in „Abfall“ verwandelt, der von Einsatzgruppen, Polizei und Waffen-SS dann systematisch weggeräumt wurde. Die Orts- und Feldkommandanten wußten, daß sie mit ihren Maßnahmen gegen die Juden nur Vorarbeit leisteten.

(...)

Das „Säubern des flachen Landes“ war keine Willküraktion der Wehrmacht, sondern erfolgte offensichtlich in Absprache mit der Zivilverwaltung. Deren Chef, der Reichskommissar Ostland, Hinrich Lohse, dem auch „Weißruthenien“ unterstand, hatte in seinen „Vorläufigen Richtlinien für die Behandlung der Juden“ vom 18. August 1941 „Mindestmaßnahmen“ bestimmt, „solange weitere Maßnahmen im Sinne der endgültigen Lösung der Judenfrage nicht möglich“ waren. Als eine dieser Maßnahmen dekretierte er: „Das flache Land ist von Juden zu säubern.“ Ende November brach die Wehrmacht dieses Programm ab. Die katastrophale militärische Lage an der Front machte es notwendig, sich auf die originären militärischen Aufgaben zu besinnen. Statt die Juden an Ort und Stelle zu vernichten, sollte die Wehrmacht sie vom Land in die nächstgrößeren Ghettos abtransportieren. (...) Am 20. Oktober wurden mit Hilfe der Wehrmacht 7000 Juden in Borissow abgeschlachtet, im November folgten 5000 Ghettoopfer in Bubruisk. (...) Auch in „Weißruthenien“ übernahm, nach dem Abzug der Polizeibataillions II, die Wehrmacht in Gestalt des Infanterie-Regiments 727 die Aufgabe, gegen die Ghettos zu marschieren. Am 30. Oktober „räumte“ die 8. Kompanie das Ghetto in Nieswiecz und ermordete 4500 Juden, am 2. November fielen derselben Einheit eine unbekannte Zahl von Juden in Lachowicze, am 5. November 1000 Juden in Turec und Swierzna zum Opfer, den 9. November, den nationalen Ehrentag, feierten die Soldaten der 8. Kompanie mit dem Abschlachten aller 1800 Juden von Mir, in Slonin unterstützte die 6. Kompanie aktiv die von SD und Polizei am 13. und 14. November durchgeführte Ermordung von 9000 Juden, die 7. Kompanie war am 8. Dezember bei der Ermordung von 3000 Juden in Novogrudok behilflich. Die meisten der bisher geschilderten Mordaktionen der Wehrmacht – die kleineren Razzien wie die großen Ghettoaktionen – fanden vor dem 3. Dezember 1941 statt. (...) Die ersten entscheidenden Maßnahmen zum Genozid an den Juden sind also nicht im Kontext der Niederlage erfolgt, sondern wurden geplant und durchgeführt zu Zeiten der größten Siege. Nicht im Winter 1942, sondern im September und Oktober 1941 tat die Wehrmacht den Schritt von der alltäglichen Verfolgung zum großen Mord, von der Razzia zum Holocaust. „Ungefähr 19.000 Partisanen und Verbrecher, das heißt also in der Mehrzahl Juden“, so meldete die Einsatzgruppe A, habe die Wehrmacht bis Dezember 1941 in Weißrußland erschossen.

Und ein Bericht des SD-Führers Burkhard aus Minsk, ebenfalls am Jahresende 1941 verfaßt, stellte klar, daß das nicht zufällig geschah: „Zwischen der Wehrmacht und dem Generalkommissariat bestehen (...) grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten, da die Wehrmacht die Lösung der Judenfrage aus Gründen der allgemeinen Sicherheit für unbedingt notwendig erachtet, während die Zivilverwaltung im Hinblick auf die wirtschaftlichen Notwendigkeiten eine baldige Lösung der Judenfrage für unzweckmäßig hält...“

(...) Innerhalb des ersten Halbjahres 1942 ermordete die Wehrmacht Im Gebiet Weißrußland noch einmal mindestens 20.000 Juden.

Das Wirken der Wehrmacht in Weißrußland in der Zeit vom 22. Juni 1941 bis zum 1. Juli 1942 läßt sich so resümieren: 1. Die Beteiligung der Wehrmacht am Holocaust erfolgte auf allen Ebenen der militärischen Befehlsgewalt – von den Befehlshabern des Rückwärtigen Heeresgebietes und des zivil verwalteten „Ostlandes“ bis zu den Truppenführern. Fälle von Widerstand oder Befehlsverweigerung hat es nicht gegeben. 2. Die „Erfassung“ und Ghettoisierung der Juden war planmäßig vorbereitet. Sie erfolgte – wie die späteren Maßnahmen der physischen Vernichtung – in zeitlicher Abstimmung zu den Etappen der „Endlösung“ und in konkreter Absprache mit den übrigen Organen der Besatzung. 3. Das Vernichtungsprogramm der Wehrmacht war in Zielsetzung und Begründung rassistisch. Wie die Gleichsetzung von Jude und Partisan zeigt, standen militärische Überlegungen nicht in Konkurrenz zum Rassismus, sondern waren sein inhärenter Teil. 4. Die Mentalität der Wehrmachtsführung entsprach dem Bewußtsein der Truppe. Das persönliche Engagement bei der „Judenjagd“ – sei es in freiwilliger Kooperation mit den Einsatzgruppen oder als wehrmachtseigene Aktion – verrät ein spontanes Einverständnis mit dem Judenmord. 5. Diese Ergebnisse lassen sich, mit Blick auf die Forschung von Magers Vestermanis über die Taten der Wehrmacht im Baltikum und die schon aus den Nürnberger Prozessen bekanntgewordenen Verbrechen in der Ukraine, verallgemeinern.

Aus „Killing Fields“ in: Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944, H. Hannes Heer, K. Neumann, Hamburg 1995, 685 Seiten