Filmfeste Biographien: Das Band ist zerrissen
■ Mädchen werden: Leben als Hure, Leben als Zicke
Über den Haufen zu werfen, was einem als Kind gesagt worden ist, bedeutet im schlichten Fall erwachsen zu werden und im günstigeren Fall Emanzipation. Aber: „to give up everything you have been told as a child“, da müssen schon höhere Mächte im Spiel sein. Denkt man. Für Consuela Cosmetic ist das die Quintessenz aus ihrem Leben, das ein Versuch war, im Glamour zu Haus zu sein und in einem männlichen Körper weiblich.
Was ein Regisseur, der bisher nur Musikvideos und Werbespots gedreht hat, über dieses New Yorker Leben ans Licht bringt, ist ergreifend und ernüchternd: „Mirror, Mirror“ von Baillie Walsh zeigt das letzte Jahr des Lebens von Consuela Cosmetic, die sich so nennt, weil sie sich für eine Spezialistin auf dem Feld der makellosen Weiblichkeit hält. Ohne giftig zu werden, offenbart die Studie dieses Leben als eingezwängt zwischen Single-Wohnung und Off-Club, der feindlichen Straße und dem befreundeten Telefon.
Daß Consuela Cosmetic über eine Szene, die mit Aids am Verschwinden ist, so präzise Auskunft gibt, ist ein großer Trost. Es sind ja nicht die Wahrheiten, die einen erschrecken, sondern die Wirklichkeit: Consuela ist, wie eine eindeutige Einstellung unter der Dusche klarmacht, Träger eines mächtigen Geschlechts, eines müden Hinterns und einer grotesken Ausformung, die einst als illegal implantierte Silikonbrüste der Stolz der Innung waren. Jetzt verliert sie rapide Gewicht und die Implantate entstellen sie. „I'm fourty fucking years old. How long can I be a sex symbol?“ fragt sie, als wenn ihr Leben noch eingepaßt wäre in ein bürgerliches Muster von Biologie. Bevor sie (er) auch nur vierzig ist, ist der Film abgedreht und sein Star mausetot.
Was es bedeutet, ein Mädchen zu werden: Das ist – als sehr elegant dokumentarisch angehauchte Fiktion – auch Thema des Spielfilms All Over Me. Die Erzählung setzt ein mit dem Beginn des Endes einer Freundschaft: Die schwerfällige Claude verliert ihre blonde und wendige Freundin Ellen an deren ersten Freund. Wie es halt so geht. Es ist durchaus rührend zu sehen, wie Claude (Alison Folland) keine Sprache findet, bis sich zwei Metaphern kreuzen: Popmusik und lesbisches Girlietum.
Doch der Regisseurin Alex Sichel entgeht auch nicht das Drama des heterosexuell begabten Kindes. Ellen (Tara Subkoff) ist das sexy Mädchen des Augenblicks. Eine der Kernszenen zeigt Ellen mit ihrem Macho-Freund Mark in einem kleinen Zimmer. Ellen bedient sich reichlich an seinem Kokain, er verbietet es ihr. Sie: „You're not my daddy.“ Er steht vom Bett auf, hebt ihren kleinen Körper hoch wie eine Puppe und setzt sie vor die Tür. In einer Handumdrehung wird klar, wie aussichtlos es ist, das eigene Spiegelbild erotisch verkaufen zu wollen. Es endet immer im Leben als Zicke.
Consuela Cosmetic ist nicht einmal vierzig, die Mädchen Claude & Ellen sind wohl fünfzehn Jahre alt. Rechnerisch trennt sie eine Generation. Aber mit Aids ist das Band zerrisen. Der Riß, der sich zwischen den Altersgruppen auftut, ist ein Abgrund. Ulf Erdmann Ziegler
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