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Press-SchlagDie toten Augen von Leberwurst

■ Stehplatz mit Marilyn – oder: Warum Dortmund auch diesmal Meister wird

„Gehen Sie heute abend auch zum Spiel?“ fragt die freundliche Eurowings-Stewardeß die Frau auf der anderen Seite des Gangs, und die nickt freundlich zurück: „Ja klar.“

Rotes Haar rahmt ein blasses, erwachsenes, schönes Gesicht ein, und um den Hals ist lose ein schwarz-gelber BVB- 09-Borussia-Dortmund-Schal geschlungen, das Gelb nicht in Quietsch, Quitte oder Neon, sondern fett und voll und sonnig, wie sich das für einen nicht trittbrettfahrenden Dortmund- Sympathisanten gehört, und vor allem: Keine Deutschlandflagge verunziert den Halswickel.

„Auch Osttribüne?“ fragt die Stewardeß. „Süd“, erwidert die Rothaarige, lächelt noch einmal die Flugbegleitung an und widmet sich dann wieder der Lektüre ihres Jamiri-Comics.

Wer solche Fans hat, der wird Meister, denke ich noch und bereue sehr, daß ich ausgerechnet heute nicht vorsorglich eins der BVB-Pflaster, mit denen ich sonst die Kinder glücklich mache, über meinen Ehering geklebt habe.

Und jetzt à la „Nein, so ein Zufall!“ meinen BVB-Schlüsselanhänger fallenzulassen, um irgendwie ins vertraute Gespräch, quasi von Hooligan zu Hooligan, zu kommen, wäre dann doch zu peinlich.

Abends im „B-Trieb“, wo sich der Dortmunder Anhang vor dem Spiel mit Pils und Frikadellen stärkt, nach dem Spiel der Freude über den Sieg durch den Verzehr von Pils und Frikadellen wiederum adäquaten Ausdruck verleiht oder eventuellen Kummern nicht minder angemessen in Pils und Frikadellen – dann aber mit extra viel tränenlösendem Löwensempf! – ertränkt, herrscht große Nervosität.

Lang war die Winterpause, und die Fans stehen noch nicht im Saft der Siegesgewißheit, sondern sind angenehm bescheiden: „Das wird knapp“, hört man es durch die Gastwirtschaft murmeln, die häufigsten Tips sind ein mattes Zweieins oder ein noch matteres Einsnull; allein die Rothaarige aus dem Flugzeug, die etwas abseits einen Espresso und einen Brandy zu sich nimmt, strahlt Ruhe ab.

Im Stadion stehen wir rein zufällig nebeneinander auf der Südtribüne; als ich eine entsprechende Bemerkung mache, erwidert sie: „So so. Aber wenn Sie schon hier sind, könnten Sie mir eventuell einen Gefallen tun?“

Gerne, nicke ich.

„Ich habe nämlich meine Brille vergessen und sehe nicht sehr viel. Könnten Sie mir vielleicht das Spiel etwas kommentieren? Aber bitte nicht wie einer dieser schrecklichen Leute vom Fernsehn, sondern ganz normal?“

Eine Einschränkung der Sehfähigkeit, das wußte schon Marilyn Monroe, hat etwas unglaublich Anrührendes; sie ist ein Appell an alle, die sich für Scharfseher halten, den Reiz der Verschwommenheit zu entdecken.

„Ich habe Augen wie ein Falke und Ohren wie ein Lachs“, versichere ich ihr und schwöre bei mir folgenden Schwur: Sollte auch nur irgend etwas von dem Beckmann-Kerner-Wontorra-Verbalgewürge in mich eingesickert sein und mir, mit „Möller findet keine Anspielstation“ o.ä. eine Blamage eintragen, dann würde ich diesen Plagen geben, was ihnen zukommt, o ja...

Ich unterbreche meine erfreulich vielfältigen und differenzierten Gewaltphantasien und konzentriere mich auf meine neue Aufgabe: „Der da an der Mittelinie, der gerade gefeiert und geehrt wird, das ist Matthias Sammer, der Mann, in dessen Adern Ehrgeiz fließt, ein Streber, der aber hin und wieder für die fußballspielerischen Elemente sorgt, wegen der wir hier ja stehen.

Auf dieses spielerische Element scheint Ottmar Hitzfeld aber weniger zu setzen, das sieht man an der Teilnahme von Martin Kree, aber gegen Pittbulls stellt man eben keine Dalmatiner auf, sondern Pittbulls...“

„Nicht so feuilletonistisch bitte“, verlangt meine Zuhörerin, und ich versuche es erneut. „Okay, nur die Fakten. Wer bei Bayer Leverkusen spielt, verpflichtet sich, jeden Tag ein Kilo aus der Bayer-Produktpalette zu essen.

Hier ist der Spieler auch Proband. In der Leverkusener Sammelumkleide stehen Knabberschälchen mit gemischten Psychopharmaka, und auf der Trainerbank sitzen die Experten und kucken, wie das Zeug wirkt.

Außer dem Trainer selbst natürlich, der ißt jeden Tag freiwillig zwei Kilo. Hören Sie mal.“

Gerade singen die Dortmunder Fans auf die Melodie von „Ja, mir sa'n mi'm Radl da“ die Zeile „Daum ins Methadon- Programm“, wieder und wieder. „Christoph Daum“, schaltet sich jetzt mein Nachbar in die Reportage ein, „ist der Wiedergänger von Klaus Kinski. Sie verstehen: Die Toten Augen von London sind endgültig nach Leverkusen umgezogen.“

„Die toten Augen von Leberwurst?“ fragt unsere Zuhörerin verwundert. „Ist das noch Journalismus?“

„Aber sicher“, versichere ich ihr, „das sieht man doch!“

Und siehe: dann sieht man es auch. Gerade eben, hier in dieser Zeitung. Wiglaf Droste

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