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Die Züge fahren erst im Kopf davon

■ Rasend kurze Pausen gibt es bei „The Nervous System“, einer Old-School- Techno-Film-Performance von Ken Jacobs, die in der Akademie gezeigt wurde

Das Kino als bequeme Abspielstätte interessiert Ken Jacobs nicht. Für ihn ist Film noch ganz Ereignis, am besten live, weil „da die Zuschauer an den Bildern mitarbeiten müssen“.

Wohl deshalb benutzt er bei seinen Performances auch Material aus den Anfängen der Kinematographie, zeigt Muybridges schüttelbildartige Boxer und immer wieder jene Züge, vor denen die Besucher auf den Jahrmärkten des Fin de siècle verängstigt aus den Buden flüchteten. Jacobs liebt diesen Angriff der filmischen Wirklichkeit damals auf das Leben.

Etwas vom frühen Zauber ist an den Arbeiten des 63jährigen Experimentalfilmers/Professors hängengeblieben, der in den Fifties Malerei studierte und 1986 vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) nach Berlin eingeladen wurde. In New York lief seine Retrospektive nicht von ungefähr im Museum of Modern Art: Film als Kunstwerk.

Um seine Projektoren und Propellermaschinen in der Akademie der Künste für „The Nervous System: From Muybridge to Brooklyn Bridge“ gut zu positionieren, mußte ein ansehnliches Quadrat inmitten der Sitzreihen abgesperrt werden.

Tatsächlich hatte das Arrangement etwas von einer Laborsituation, in der vor allem das Publikum getestet wurde: Wie lange hält man schwarzweißes Flimmern aus? Und wann wird aus der Hardcore- Montage bloßer Bilder endlich Film?

Jacobs arbeitet mit allen Wahrnehmungstricks, die Bilder – einmal in Bewegung gesetzt – zulassen. Wobei der Stroboskop-Effekt noch einfach zu erklären ist: Im Flackern des Lichts scheinen die Dinge während der Dunkelphasen zu wandern. Das Auge wird in den rasend kurzen Pausen desorientiert und sieht plötzlich Bewegungen, wo doch nur der Sehnerv überreizt ist.

Die Folge: Mal verschwimmen zwei Aufnahmen eines leicht verschobenen Zuges zu einem 3D- Bild, und manchmal fahren auch beide Züge davon, aber in unterschiedliche Richtungen, und das überdies noch im eigenen Kopf.

Bei kompletten Filmsequenzen dagegen liegt der Rausch in einer sehr eindringlichen Rorschach- Psychedelik. Für „Georgetown Loop“ hat Ken Jacobs eine um 1900 aufgenommene Zugfahrt gekontert und die Spiegelung in der Mitte zusammengeführt.

Entsprechend fährt man die Mittelachse lang und immer weiter hinein in den Höllenschlund der Zentralperspektive. Schon winzige Felsen am Wegesrand mutieren in der Doppelung zu monströsen Schamdreiecken oder spannenden Vulkanausbrüchen, die sich mit dem Tempo des gefilmten Zuges übereinanderschichten.

Diese Art Old-School-Techno, deren Effekte einen quasi physisch fortziehen, wird inzwischen zwar gern auch in computeranimierten Musikvideos eingesetzt. Trotzdem hatte selbst das sehphilosophisch gebriefte Akademie-Publikum damit einige Probleme:

Als es hell wurde, war der Saal halb leer. „Is' halt echt nix fürs Kino“, meinte ein Sitznachbar, bevor er leicht verwackelt davonschlich. Harald Fricke

„The Nervous System: From Muybridge to Brooklyn Bridge“ und „The Marriage of Heaven and Hell“. USA 1996. Von und mit Ken Jacobs

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