Willst du sie berühren?“

Ein Bett, eine Kamera und zwei Personen, die sich nicht kennen: „Visiting Desire“ (Panorama) von Beth B ist ein sexualwissenschaftlicher Experimentalfilm. Aber anders, als Sie denken  ■ Von Andreas Becker

Jeden Tag besichtigen wir das eigene Begehren, wie es sich um die Ecke schleicht und schon wieder eine fremde, unschuldige Person zum Lustobjekt erkürt. Wird ja doch nichts draus, sagt dem Begehren das Resthirn. Das könnte man auch mal anders probieren, sagte sich dagegen die New Yorker Filmemacherin Beth B. Sie hatte eine simple, aber ziemlich gute Idee: Was passiert, wenn zwei völlig fremde Menschen in einem Zimmer aufeinandertreffen, in dem nur ein Bett steht? Und eine Kamera.

Zunächst fragte sie Spaziergänger im Central Park nach ihren Phantasien. Dann befragte sie einige Psychoanalytiker zum Thema. Die Interviewtakes schnitt sie aneinander. Dann blieben ihr noch fünf Drehtage, zwei Kameras und ein Hotelzimmer mit einem gemütlichen, großen Bett. Lydia Lunch würde auf alle Fälle mitmachen. Um keine zu brenzligen Situationen entstehen zu lassen, befragte sie die ansonsten fremden Mitspieler vor dem Filmen nach ihren Phantasien und sagte ihnen, daß es nicht explizit um Sex ginge. Dieser Dokumentarfilm überschreitet gleich mehrere Grenzen: Wir, die Zuschauer, geraten in eine unangenehm angenehme, zwielichtige Schlüssellochperspektive. Die Testpersonen aber wissen, daß sie gefilmt werden und beziehen daraus sogar eine gewisse Sicherheit, eine letzte Verbindung zur Außenwelt, wie man an Blicken zur Kamera spürt. Sie fungieren einerseits als Schauspieler, aber was sie hier spielen – es gab kein Script – ist ihr eigenes Leben. Und eben das kann man nicht spielen.

Beth B hat die zwölf Akteure, die jeweils eine halbe Stunde Zeit haben, zufällig zusammengewürfelt. Nach einiger Zeit meint man, sie alle zu kennen: den Skinhead, den Transvestiten, die Frau mit den kleinen Brüsten, die Frau mit den Riesendingern (Lydia, von allen dem Vergnügen am offensten zugeneigt: „Willst du sie berühren?“), den Schwarzen, der von hinten gefilmt wie ein Riese auf die kleine Frau auf der Bettkante zuwankt. Eine Frau schafft es, sich bei fast allen auszuheulen. Der langhaarige Cyrus, der dauernd lächelt, soll dem ziemlich direkten Skin endlich sagen, welche geschlechtliche Identität er habe: „Are you gay? Or are you straight?“ Plötzlich geraten die beiden in eine Rangelei, knallen vom Bett auf den Boden. Er habe wirklich Angst vor dem Typen gehabt, sagt Cyrus bei der Diskussion nach dem Film. Als die halbe Stunde vorbei ist, spürt man die Erleichterung der Probanden: „Hat jemand eine Zigarette?“ Reality TV. Mit viel weniger Sex, als es jeder der Teilnehmer in seiner Phantasie wohl erwartet hätte. Bleibt nur die beängstigende Frage, was ohne Kamera passiert wäre. Aber das hätten wir dann ja nicht gesehen.

„Visiting Desire“. USA 1996, 70 min., Regie: Beth B. Mit: Lydia Lunch, Kembra Pfahler, u.a.

24.2.: 18.15 Uhr Atelier am Zoo