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Andere Zeiten

■ Read.Me: Wie aus der einst unabhängigen und liberalen "New York Times" ein Stenograph der Macht wurde

In Oliver Stones Film „Nixon“ ist die New York Times (NYT) die Heldin. Dabei war es die Washington Post, die den Watergate-Skandal zuerst enthüllte. Dafür hatte die NYT im September 1971 die sogenannten Pentagon-Papers veröffentlicht – einen geheimen Bericht zur Lage in Vietnam. Jedenfalls einen ausgewählten Teil davon. So entstand der Mythos von der kritischen, freien, liberalen US-Presse.

Ein Lügengespinst, Propaganda. Die Times ist wie so manches angesehene Blatt korrupt und opportunistisch, macht Stefan W. Elfenbein in seiner lesenswerten Untersuchung zum letztjährigen 100. Geburtstag der Zeitung deutlich. Carl Bernstein, der von Oliver Stone verschmähte Aufdecker des Watergate-Skandals, hatte schon 1977 geschrieben, daß die Times der „zuverlässigste Partner der CIA“ war. Möglicherweise war es Bernstein unfreiwillig auch selbst. Ob er die Akten erhielt, um beim Präsidentensturz den Vorwand zu liefern? „Du weißt nie, warum jemand dir Informationen liefert“, sagte er dazu bereits vor zehn Jahren. Die Auslandsreporter, das wußte Bernstein genau, schnüffelten für den US-Geheimdienst, und zu Hause schrieben die amerikanischen Schlapphüte an Zeitungsserien über ihren Dienst.

Nichts deutet darauf hin, daß es heute anders läuft. Die NYT vertrat die Regierungspolitik in Zentralamerika ebenso wie während der Kuwait-Krise. Die über russischem Luftraum, genauer: über einem militärischen Sperrgebiet abgeschossene koreanische Passagiermaschine half Reagan, sein Missile-Programm samt Rekordbudget durchzusetzen. Die Times verschwieg, was sie wußte, und trug Reagans Schimpf gegen das „Reich des Bösen“ mit. Heute werden Kommentare in den Ministerien vor Druck gegengelesen oder gar dort verfaßt, vertrauliche Informationen gelangen meist zuerst in die Hände dieser Zeitung. Hohe Beamte aus den Ministerien wechseln in die Redaktionen, von dort nehmen Journalisten den umgekehrten Weg. In den Vorständen der Atom- und Chemieindustrie, bei Autobauern und Elektronikfirmen sitzen die Vorständler der New York Times Company – mit Auswirkungen auf die Berichterstattung. Kein kritisches Wort gegen die Wirtschaft rutscht durch die Redaktionszensur. Ein verzweifelter Reporter steckte seine kritischen Informationen über eine Atomanlage auf Long Island einer Kollegin zu, die für eine kleinere Zeitung arbeitete, bevor er einen Nervenzusammenbruch erlitt.

Elfenbeins Untersuchung sammelt massenhaft Indizien und Beweise, die einen mühsam gehegten Mythos schleifen. Vermutlich folgenlos. Zu den vier bis fünf Millionen Lesern gehört die Elite der Nation, und wie überall merken auch die klugen Köpfe nicht, daß sie manipuliert werden. Möglicherweise vermögen nicht einmal die Redakteure, diese Welt zu verstehen. Jeff Cohen, hellwacher Direktor der medienkritischen Organisation Fair, nennt sie „Stenographen der Macht“. Gut, daß es hier noch eine unabhängige Tageszeitung gibt. Peter Köpf

Stefan W. Elfenbein: „The New York Times: Macht und Mythos eines Mediums“. Fischer Taschenbuch Verlag, 270 Seiten, 18,90 DM

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