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Mäuseangst im Sofakasten

■ „Das Familienalbum“: Das Fundus Theater spielt seit mehr als zehn Jahren ein Kinderstück über sexuellen Mißbrauch als Mäusepuppendrama

Es gibt Dinge, über die maus nicht gerne spricht. Dazu gehört, daß Mäusekind Nischen immer Onkel Watjas Schwänzchen streicheln muß. Sollte Nischen jemandem davon erzählen, wird ein Blitz ins Foto-Album der Familie fahren. Sagt der Onkel, und Nischen glaubt's. Das Familienalbum, das dem Puppenstück des Fundus Theater seinen Namen gab, ist der Maus wertvoll, und so erfährt erstmal niemand von dem Mißbrauch.

Wie die Mäuse, so die Menschen, lehrt das Stück von Tine Krieg und Sylvia Deinert. Viele sexuell belästigte Mädchen teilen Nischens Zögern, jemandem von dem Mißbrauch zu erzählen – aus Rücksicht auf den Familienfrieden, oder aus Angst, daß ihnen niemand glaubt. Die Puppenspielerinnen Krieg und Deichert vom Fundus Theater haben Das Familienalbum 1984 geschrieben, um Kindermut zu schüren und Gesprächstabus zu brechen. Seit mehr als zehn Jahren spielen sie die Mäusegeschichte in ganz Deutschland, für Schulklassen und für alle, die älter als acht sind.

Angenehm unmoralisch und mit witzigen Details lockert das Fundus bedrückende Mißbrauchszenen auf und rettet sich so vor einer beklemmenden Problempackung. Die Mauseeltern schmusen, während ihre Kinder im Sofakasten zanken. Kein Schimpfwort ist so böse wie „Du Mickeymouse“, kein Anlaß zu gering, um Papas Siesta zu stören.

Die meisten Kinder erkennen das Mißbrauchs-Thema trotz der Randgeschichten schnell, berichten Deinert und Krieg. Aber es kommt auch vor, daß sich besonders Jüngere nur für den Nageralltag interessieren. Da zerknautschen Handpuppen Sofakissen, schwingen an der Lampenschnur und nuckeln an Schwanzspitzen. Drum herum schleicht eine zerbeulte Katze, die die Hausbar ihrer Besitzer plündern will.

Bei soviel Kleintier-Idylle scheint Onkel Watja umso bedrohlicher. Das mausgewordene Böse hat riesige Hände, die nach Nischen greifen und sie schließlich in eine Mausefalle treiben. Dann endlich kommen die Mutter und ihrer Schwester; trösten, verbinden Wunden und hören zu.

Ende gut, alles gut? Vielleicht. Der Blitz ist jedenfalls nicht ins Fotoalbum gefahren, obwohl Nischen alles verraten hat. Aber was mit Onkel Wanja passiert, bleibt unklar. „Ein reines Happy End wäre Verarschung gewesen“, finden die Autorinnen und Puppenspielerinnen. Schließlich geht für mißbrauchte Mädchen auch nicht alles gut aus. So wird Onkel Watja letztlich zwar vom Kater gefangen, aber der ist Vegetarier.

Judith Weber

Die nächsten Vorstellungen in Hamburg sind bereits ausverkauft. „Das Familienalbum“ gibt es jedoch auch als Bilderbuch, 48 Seiten, Lappan Verlag Oldenburg, 34 Mark

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