: Arbeiterin unbekannt
■ Drei Stunden Schnitzeljagd: „Reprise“ von Hervé Le Roux im Forum
Am 10. Juni 1968, ein Monat nach dem Generalstreik, filmen Studenten der Pariser Filmhochschule die Wiederaufnahme der Arbeit in einer Batteriefabrik. „La reprise du travail aux usines Wonder“ wurde zur berühmtesten Reportage über die Mai-Aufstände, und markierte zugleich den Einbruch der Streikfront. Die Gewerkschaft CGT hatte sich gemeinsam mit der KP auf einen Vorschlag der Unternehmer eingelassen und die Arbeiter zur Rückkehr aufgerufen.
Wenige Stunden zuvor hatte die „Wonder“-Belegschaft über den Fortgang des Streiks abgestimmt. 560 ArbeiterInnen hatten sich gegenüber 260 für ein Ende ausgesprochen. Trotzdem erklärt eine wütende junge Frau vor der Kamera, daß sie nie wieder die Fabrik betreten wird. Die Arbeitsbedingungen seien unzumutbar, es gäbe keine Duschen, überhaupt sei der Kompromiß faul und die Wahl gefälscht. Dann sieht man, wie der Rest geknickt zurück ins Werk geht. Nur von der aufgebrachten Arbeiterin fehlt jede Spur.
Hervé Le Roux, dessen Spielfilmdebüt 1993 in Cannes lief, versucht in seiner dreistündigen Dokumentation nicht nur die Ereignisse vor dem Fabriktor zu rekonstruieren. „Reprise“ ist tatsächlich eine Wiederaufnahme der Gegensätze und Grabenkämpfe, die sich nach den Mai-Aufständen zwischen Gewerkschaften, Links-Parteien, aber auch jungen Maoisten vom Gymnasium und ArbeiterInnen abgespielt haben.
Der 1995 mit Unterstützung des französischen Arbeitsministeriums entstandene Film entwickelt sich wie ein Schnitzeljagd: Zunächst folgt Le Roux den Filmemachern von damals. Der Kameramann Pierre Bonneau verweist ihn auf den Gewerkschaftsverband von Saint Ouen, in dessen Unterlagen sich allerlei frühere Mitglieder aufspüren ließen, die an der „Wonder“-Aktion beteiligt waren. So finden sich immer mehr Personen, deren Biografien der Regisseur in jump cuts oder langen Interview- Passagen zusammenfügt: „Man entfernt sich sozusagen von dem was in der Fiktion 'Typage' wäre“, so Le Roux. Aus Oral History wird Arbeiter-Geschichte.
Stets verfährt Le Roux nach der Methode, mit der auch Marcel Ophüls 1991 seine Dokumentation „Novembertage“ über den Mauerfall angeschoben hat: Immer wieder zeigt er seinen Protagonisten das alte Filmmaterial, das gerade wegen seiner Direktheit – ohne Schnitte und abschweifende Schwenks – widersprüchliche Erinnerungen auslöst. Mal behauptet Louis Morin, der von 1957 an bis zur Fabrikschließung unter Bernard Tapies 1986 als Mechaniker arbeitete, daß die starke Hierarchisierung innerhalb des Betriebs die Streikfront zerbrochen hat; mal erklärt der ehemalige KP-Sekretär Pierre Guyot, daß sich gegen die zwischen Gewerkschaften und Kommunisten beschlossene Sache ohnehin nichts mehr hätte ausrichten lassen. Am Ende hat Le Roux bald zwei Dutzend Menschen gefunden, aus deren Gedächtnis sich das Puzzle zusammensetzt. Nur ein Steinchen im Zentrum fehlt – niemand weiß, was aus der jungen Frau geworden ist. Nun hofft Le Roux, daß sie „Reprise“ vielleicht einmal sieht. Oder ihre Tochter. Harald Fricke
„Reprise“. F 1996, 192 Min., Regie: Hervé Le Roux
Heute: 10 Uhr Arsenal; 22.2.: 11 Uhr Akademie
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