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27 Millionen Opfer – und irgendwie keine Täter

■ Stundenlang hörten sich gestern im Rathaus Kritiker und Verfechter der Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ zu / Die Würde der Opfer und die Würde der Soldaten

„Das ist der politische Marktplatz dieser Stadt“, schwärmte Bremens Bürgermeister Henning Scherf in der Oberen Rathaushalle, und erinnerte daran, daß hier seit dem Jahre 1410 Bremens Geschichte gemacht wird. Gestern stand da eine handverlesene Versammlung von gut 300 BremerInnen, „Verbrechen der Wehrmacht“ beim Ost-Feldzug der deutschen Armee, war das aktuelle Thema. Wenn in wenigen Jahren deutsche Soldaten wieder „in diesen Staaten“ auftreten, dann, so erklärte Scherf den drängenden Klärungsbedarf, müsse es Klarheit geben über die Vorfälle, die inzwischen schon 50 Jahre zurückliegen.

Diskussionsleiter Prof. Wolfgang Eichwede, der als Osteuropa-Historiker und Beutekunst-Emissär schon in den vergangenen Jahren sehr oft in diesen Staaten war, gab einen kleinen Vorgeschmack auf die Fragen, denen sich die neuen deutschen Soldaten stellen müssen: 27 Millionen sowjetische StaatsbürgerInnen sind ums Leben gekommen in diesem Krieg, weit über die Hälfte davon Zivilisten. Eine Frau, die „unter den Leichenbergen von Babi Jar hervorgekrochen“ war – dort waren am 29.9.1941, acht Tage nach der Besetzung Kiews, 33.700 Juden, die die Wehrmacht in Kiew zusammengetrieben hatte, in einer Schlucht ermordet worden – hatte ihn, den Deutschen, gefragt: „Wer hat das bei Euch gemacht?“ Eichwede: „Auf diese Frage müssen wir eine Antwort finden“. Wir seien es der „Würde der Opfer“ schuldig, zu klären, wie das geschehen konnte.

Für die Militärs, die an der Podiumsdebatte beteiligt waren, stellte dagegen Generaloberstabsarzt Rebentisch klar, „daß Millionen deutscher Soldaten mit diesen Verbrechen nichts zu tun haben“. 19 Millionen Deutsche hätten „befehlsgetreu und opferbereit ihre Pflicht für das Vaterland getan“, erklärte Rebentisch, „keiner meiner Kameraden in den Kampftruppen wußte dies“. Nur „ein kleiner Prozentsatz der Wehrmacht“ sei daran beteiligt gewesen. Man solle nicht „alte Wunden wieder aufreißen“, verantwortliche Politiker eines „geordneten Staatswesens“ müßten die pauschale Verunglimpfung der Wehrmacht durch die Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die sich „gegen die Wehrbereitschaft Deutschlands“ richte, verhindern. Ein Drittel der ZuhörerInnen quittierte diese Ausführungen mit Beifall.

Generalmajor Greiner (s. nebenstehendes Interview) berichtete, die deutschen Truppen seien „in Weißruthenien als Befreier begrüßt“ worden, „das haben wir erlebt“. Das Militärgeschichtliche Forschungsamt der Bundeswehr in Freiburg habe den Brief eines russischen Leutnants veröffentlicht, der sich gewundert habe, daß beim Rückug der Deutschen die russische Bevölkerung „keine Spuren von Schandtaten“ zu berichten gehabt hätte. Die Sowjets, so Greiner, hätten „die Haager Landkriegsordnung auch nicht anerkannt, daraus ergaben sich Schwierigkeiten.“

Auf die Frage, wie es zu den 27 Millionen Toten auf der Seite der Sowjetunion kommen konnte, hatte eingangs der emiritierte Historiker Prof. Hans-Adolf Jacobsen eine Antwort versucht. Auch er war Leutnant bei der Wehrmacht gewesen, eindrucksvoll konnte er die Mentalität der Militärs in den 30er Jahren beschreiben: „siegestrunken“ von Hitlers politischen und militärischen Erfolgen nach den Jahren der Demütigung seit der Niederlage des kaiserlichen Deutschlands 1917/18.

Aber Jacobsen formulierte aus der Distanz des Historikers ganz klar: „Es war ein Eroberungs- und Vernichtungskrieg“, aus dem Morden beim Polen-Feldzug und aus den Reden wußte die Wehrmachtsführung, was Hitler vorhatte. Jacobsen wischte auch die „Differenzierung“ von tapferen Soldaten und SS-Schergen zurück: „Wir – ich beziehe mich da ein – sind historisch gesehen Mittäter“, formulierte er. „Das war eine Arbeitsteilung: Hätten wir vorne nicht so tapfer gekämpft, wäre es hinten nicht zu den Mordaktionen gekommen. Wir haben die abgeschirmt.“ Zudem sei die Wehrmacht sehr viel mehr an den Verbrechen beteiligt gewesen und habe mehr „wirklich mitgewirkt“, als das „von den Memoirenschreibern zugegeben worden ist“. Widerstand in der Armee? „Leider waren es nur sehr wenige“, bemerkte Jacobsen.

Der FAZ-Autor Günther Gillessen bestätigte das wider Willen, als er berichtete, die Wehrmachtsführung habe den Oberbefehl über das eroberte „Rückwärtige Gebiet“ an die SS auch deswegen abgegeben, weil „sie wußte, was Hitler und Himmler vorhatten, und sie wollte sich heraushalten“. Der Hamburger Historiker Hannes Heer korrigierte den FAZ-Mann nur mit der Klarstellung, daß die Wehrmacht sehr wohl für 2/3 des „Rückwärtigen Gebietes“ beim Ostfeldzug, wo die systematischen Morde passierten, die direkte Verantwortung hatte. Gillessen nannte die Ausstellung eine „pamphletistische Collage“ und forderte unter Beifall „Mitleid mit der Generation, die in diese Sache verwickelt war“.

Der Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Jan Phillipp Reemtsma, hatte eine weitergreifende Begründung für die Ausstellung vorgetragen. Der Zweite Weltkrieg sei „kein Krieg eines Heeres gegen ein anderes Heer“ gewesen, sondern ein auch programmatisch ein totaler Krieg gegen eine ganze Bevölkerung. Die Vorstellung, daß Gewalt in einer Gesellschaft eingegrenzt werden kann, sei damit gesprengt worden, in dieser „Grenzüberschreitung“ liege ein „Widerruf des Selbstverständnisses der Moderne – und das demonstriert diese Ausstellung“. Als „Provokation“ werde das empfunden, weil die Wehrmacht ein Volksheer war: Gezeigt wird, „was jeder getan haben könnte“.

Klaus Wolschner

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