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Reptilien stürmen Kulissen

Die Theateranthropologie deutet jedes öffentliche Ereignis als Theater. Ihre Arbeit dokumentiert die Textsammlung „Der sprechende Körper“  ■ Von Sabine Leucht

Sie träumen von einer „Weltkultur“ und von einer „Universalsprache“, von „heiligen“ Körpern und „authentischen“ Erfahrungen – und sie haben alle mit Theater zu tun. Doch was heißt hier Theater? Der Ethnologe Victor Turner versteht darunter ganz allgemein die menschliche Eigenart, sich selbst in Szene zu setzen: sei es im Alltag, bei (sakralen) Festen oder eben auf der Bühne. Mit dem Präfix „para“ oder dem Zusatz „rituell“ versehen oder schlichtweg „Performance“ genannt, meint Theater fast alles, was wahrhaft menschlich ist und damit irgendwie konfliktgeladen: Ein zünftiger Ehekrach steht gleichberechtigt neben den Olympischen Spielen und Goethes „Tasso“ – aufgeführt, versteht sich.

Die da so große Träume träumen und dabei kurzerhand die Welt zur Bühne machen, sie nennen sich „Theateranthropologen“. Und der Berliner Alexander Verlag hat unter dem Titel „Der sprechende Körper“ eine Auswahl von Texten zusammengestellt, die dokumentiert, womit genau sie sich befassen.

Einige Praktiker der siebziger Jahre bilden heute das theoretische Herzstück der Theateranthropologie: Richard Schechner etwa, ehedem Regisseur der Performance Group und gegenwärtig Tausendsassa der Performance Studies, zeigt sich umfassend informiert über neuronale Prozesse, Geiselnehmerkrisen oder das Schweineschlachten in Kurumugl (Papua-Neuguinea).

Und Jerzy Grotowski, dessen Inszenierungen in den Sechzigern international Furore machten, hat sich neuerdings auf etwas verlegt, das sich Körperarchäologie nennt. Das geht etwa so: Man grabe sich durch allen kulturellen Ballast, bis schließlich das wahre innere Wesen der Schaufelei Einhalt gebietet.

War Grotowski in seiner ersten paratheatralischen Euphorie noch darum bemüht, wie auch immer okkult motivierte Körperübungen anschaulich zu machen, so hat er sich inzwischen ganz aufs Fabulieren verlegt: von verschütteten „Reptilienkörpern“ etwa oder dem „Weg vom Körper-und-Wesen zum Körper des Wesens“. Während Schechners unverbindlicher Eklektizismus beweist, daß sich über unverbunden-weltumspannende Ereignisse zumindest trefflich plaudern läßt, machen Grotowskis Texte vor allem deutlich, wie beharrlich sich ihre intimen Botschaften der Mitteilbarkeit entziehen.

Während der Meister im Mikrokosmos Körper auf Tauchstation geht, forscht der prominenteste seiner ehemaligen Schüler im Weltmaßstab: Auch Eugenio Barba war zuerst Regisseur, bevor er in den frühen Siebzigern die ISTA (International School of Theatre Anthropology) gründete. Als deren Direktor durchquert er unermüdlich Kulturen und theatralische Gattungen auf der Suche nach so etwas wie dem universalen Grundmuster des körperlichen Lebens auf der Bühne.

Und hier endlich verspricht die Sache interessant zu werden, geht es doch scheinbar ganz pragmatisch dem Körper an den Kragen und dem Theater an die Substanz. Doch die „wiederkehrenden Prinzipien“, aus denen laut Barba besagtes Grundmuster gewoben ist, werden in Worte gepackt, die allenfalls ahnen lassen, was sich hinter ihnen verbirgt: Begriffskonstrukte wie „Gleichgewicht in Aktion“, „Tanz der Gegensätze“ oder „Folgerichtige Folgewidrigkeit“ mystifizieren erneut, was sie doch konkretisieren sollten: das Geheimnis des „sprechenden Körpers“.

Die unterschiedlichen Vorstöße der Theateranthropologen zum „Wesen“ des Menschen oder des Theaters scheinen begrifflich fast zwangsläufig in esoterische oder pseudoakademische Sackgassen zu münden. Die Anthropologie des Theaters als „pragmatische Wissenschaft“, wie sie zumindest Barba vorschwebt, ist noch längst nicht Realität. Doch warum sollte es nicht möglich sein, „dem Akademiker den schöpferischen Prozeß zugänglich zu machen“ und gleichzeitig auch dem Schauspieler zu helfen?

Bislang hat die Anthropologie des Theaters vor allem an amerikanischen Universitäten Freunde gefunden. Aber auch in Deutschland scheint die Idee des vielfach grenzübergreifenden Performativen allmählich Fuß zu fassen. Eine der ersten Stationen auf ihrem Siegeszug wird fraglos das Institut für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin sein, dessen frischgebackene Leiterin Erika Fischer- Lichte in den letzten Jahren mehrfach mit Publikationen zum Thema hervorgetreten ist.

Ob man diese Entwicklung nun begrüßen oder bedauern soll, hängt nicht nur davon ab, ob die Theateranthropologie ihren Gegenstand sprachlich zu fassen bekommt. Bei ihrem Parforceritt durch lebensweltliche Weiten und allzu menschliche Tiefen droht sie obendrein zu vergessen, daß sie ohne selbstgesteckte Grenzen schwerlich eine eigene Identität gewinnt. Hier könnte eine wieder engere Verzahnung von Wissenschaft und Praxis (oder Anthropologie und Theater) einen befruchtenden Zusammenprall befördern. Doch solange der Knall auf sich warten läßt, bleibt die Theateranthropologie ein seltsames Zwitterwesen, verurteilt zu einem Leben zwischen den Welten: als Wissenschaft konturlos und in ihren Ergebnissen vielfach zu flach – und ohne wirklichen Nutzen für die Theaterpraxis.

Denn eher eines ihrer Spielfelder als wirkliches Ziel ihrer Forschungen, wird das Theater letztlich von der Theateranthropologie allein gelassen. Es ist – seltsam genug – ein Auslaufmodell in der Welt der Theateranthropologen. Denn diese ist viel weiter, als es die Bühne erlaubt: „Das Theater ist die Gesamtheit der Phänomene rund um das Theater, die ganze Kultur. Das Wort Theater können wir genausogut verwenden, wie wir es abschaffen können.“ Dies stammt von Grotowski – und mehr läßt sich dazu eigentlich nicht sagen.

Walter Pfaff, Erika Keil und Beate Schläpfer (Hg.): „Der sprechende Körper: Texte zur Theateranthropologie“. Alexander Verlag, Berlin, 292 Seiten, 39,80 DM

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