Zeit für ein bißchen Zeit

Die einfache Beamtin Bianca Shomburg aus Herford-Hiddenhausen sang sich direkt in das Herz des TED und somit zum Grand Prix nach Dublin  ■ Von Jan Feddersen

Von einer Sekunde zur nächsten standen ihr Tränen in den Augen. Auf die Frage, ob sie nun glücklich sei, antwortete sie ergriffen: „Ja.“ Aus den Lautsprechern quoll „Time“, ihr Siegertitel in der englischen Version. Im Original heißt er „Zeit“ und reichte am Donnerstag abend im Lübecker Musik- und Kongreßzentrum für den Sieg beim deutschen Vorentscheid zum Grand Prix d'Eurovision de la Chanson.

Am 3. Mai nun wird Bianca Shomburg in Dublin „für Deutschland“, wie Komponist Ralph Siegel nicht minder gerührt meinte, diesen Titel vortragen. Am Stand der Grand-Prix-Fanclubs, die der NDR mit seinem feinen Gespür für die nötigen Bande zur Schlagerbasis eingeladen hatte, um der Sendung ein wenig vom Pomp zu nehmen und ihr zugleich die „zivile Würde des Absurden gegen die Fadheit des Wichtigen“ (NDR- Regisseur Jürgen Meier-Behr) zu verleihen, an diesem Stand wurde derweil munter spekuliert: Hat Bianca nicht die gleiche Kartoffelnase wie Céline Dion, die Siegerin des europäischen Schlagerwettbewerbs 1988? Hat der neue Zögling aus der Ralph-Siegel-Fabrik („Ein bißchen Frieden“) nicht den gleichen zarten Silberblick, die gleiche herausgewachsene Minipli wie damals nämliche Kanadierin, die es mittlerweile aus den Grand-Prix- Niederungen zum höchstbezahlten Star der westlichen Popwelt gebracht hat? Und ist Bianca Shomburg nicht ebenso gierig nach Höherem?

Ins Mikrofon jedenfalls sagte das Spekulationsobjekt das, was es zuvor nur hinter den Kulissen zugeben mochte: „Nun will ich ein Star werden!“ Fünf ältere Menschen, die um sie herum munter dem dargereichten Champagner zusprachen, hatten es schon immer gewußt: „Unsere Bianca“, freute sich einer vom Freundschaftschor Herford-Hiddenhausen. Er wußte, was das TED-Auditorium in der ARD mit 40,2 Prozent der Stimmen bestätigte: „Die kann's.“ Er gab keine private Vermutung zum besten, vielmehr erzählte er stolz: „Die hat mal bei uns gesungen.“

Nach einer solchen Veranstaltung haben alle immer viel zu erzählen: die dem Bayerischen Rundfunk (der früher für den Grand Prix verantwortlich zeichnete) eher lästigen Fans aus den Grand-Prix-Clubs, die TV-Macher, die Fans der Sänger und gewiß auch die Busladung voller Kegelschwestern aus Oldenburg in Holstein: „Heute hauen wir hier mit schönen Schlagern unseren Porzellanpudel auf den Kopf.“

Am meisten haben wohl die Menschen aus Herford zu berichten von diesem denkwürdigen Abend. Eine der Ihren darf hinaus in die Welt. Bis vor einem Jahr verweilte die Sängerin noch auf einem pensionssicheren Beamtenposten bei der Stadt Bielefeld; nun soll sie als Stern am Himmel glühen.

Vom Ostwestfälischen bis Dublin ist es gewöhnlich ein dornenreicher, von Agenten, Plattenbossen und Konkurrenten gesäumter Weg. Da muß auch Bianca Shomburg über Steherqualitäten verfügen. Als sie vor Jahren bei einer Show Hape Kerkelings in der ersten Reihe saß und Hape sie für eine Kaffeemaschine zum Singen zwang, brachte sie keinen Ton heraus. Nervlich besser präpariert bewarb sie sich voriges Jahr bei Linda de Mols RTL-„European Soundmix Show“ – und gewann. Nach dem Sieg in Lübeck hing sie am Sektglas und zeigte trotz aller Rührung rüde Entschlossenheit: Den englischen Text sprach sie tonlos mit. Sollte sie die Trophäe beim Wettbewerb in Dublin davontragen, müßte sie ihre dramatische Ballade, in der die schöne wie richtige Frage „Wer weiß, wo ich morgen steh'?“ aufgeworfen wird, nochmals singen. Traditionell machen das die Sieger in Englisch: Bianca Shomburg, irgendwo in den Zwanzigern, zeigte sich so schon in Lübeck für den Ernstfall gewappnet.

Leon, der Sieger des vorigen Jahres, der danach seinen Beruf des Friseurs aufgab, landete nur auf dem zweiten Platz mit einem mutmaßlichen Sommerschlager: Sein „Schein“ blieb fahl. Er wirkte tief deprimiert. Und Komponistin Hanne Haller gab zu: „Ich bin enttäuscht.“ Die sogenannte Girl Group „All About Angels“, ein aus 120 Bewerberinnen zusammengecastetes Produkt aus dem Hause Siegel, landete immerhin unter „ferner liefen“. Retorten lohnen sich offenbar nicht.

Der NDR war vorläufig zufrieden, man wußte noch nichts von den Quoten: Würde Carolin Reiber mit ihrer Volksmusiksendung beim ZDF alles abgeräumt haben? Am Morgen danach stellt sich heraus: Es waren nur 3,61 Millionen. Einer tröstete Produktionsleiter Jürgen Meier-Behr schon vorab: „Kult hört auf, wenn alle dabei sind.“