: Jeden Geruch von Rot-Grün vermeiden
Die Regierung Kohl steckt in der Krise, doch andere Mehrheiten sind noch nicht in Sicht. Der SPD fehlt die Kraft zur Opposition. Deshalb müssen sich die Bündnisgrünen auf die eigenen Inhalte und Kräfte besinnen ■ Von Jürgen Trittin
Wir leben in Zeiten der Paradoxien. Während alle großen Unternehmen zum Jahresbeginn Rekordgewinne (bei reduzierter Steuerzahlung) vermelden, springt die Arbeitslosenzahl mit fast 4,7 Millionen auf die höchste Marke seit 1933. Fast als Echo darauf erstechen Neonazis in Magdeburg einen Punk und ballern in Marzahn den Inhaber eines linken Buchladens nieder. Unübersehbar zerstört die Arbeitslosigkeit nicht nur die Sozialbeziehungen der Gesellschaft. Es verbreitet sich mit der Ellbogenmentalität ein Klima des Hasses und der Gewalt.
Die politische Klasse schlägt sich mit ganz anderen Paradoxien herum. Fast scheint es, als wenn diese gesellschaftliche Entwicklung die Regierung, aber auch die Opposition nur wattiert erreicht. Die Regierung kann nicht mehr, die Opposition noch nicht regieren. Die traditionelle Lähmung zur Mitte der Wahlperiode wächst sich zu einem Machtvakuum aus. Das begünstigt die Mächte des Bestehenden.
1. CDU und FDP haben keine Mehrheit mehr
Mit der Niederlage bei der Lohnfortzahlung haben CDU und FDP eine strategische Niederlage erlitten. Der exemplarische Versuch einer Deregulierung der Bundesrepublik in Konfrontation mit der Gesellschaft ist an dieser gescheitert. Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Oppositionsparteien haben das Herzstück der neoliberalen Offensive zu Fall gebracht.
Trotz dieser Niederlagen sind die Chancen der Regierungskoalition, die kommende Bundestagswahl zu gewinnen, nicht schlecht. Das Wahlverhalten in Deutschland ist von Pragmatismus geprägt. Die Wahlentscheidung wird, links wie rechts, als eine Abwägung zwischen Alternativen begriffen, die beide ihre guten und schlechten Seiten haben. 1997 gibt es für die Wähler aber ein Problem: Für ein pragmatisches Abwägen fehlt es an einer als potentiell mehrheitsfähig angesehenen Alternative.
Machtstrategisch drückt sich die konzeptionelle Alternativlosigkeit in einer nicht überwundenen Entschlußlosigkeit der SPD aus. Soll sie der neoliberalen Gesellschaftsveränderung durch Mitmachen, durch Verzögern oder durch Widerstand begegnen? Da ihr Widerstand grundsätzlich zuwider ist, sie zu aktivem Mitmachen nach holländischem Vorbild nicht die Kraft hat, läuft ihr Verhalten im günstigen Fall auf ein Verzögern, im häufigeren Fall jedoch auf ein laues Sowohl-Als-auch hinaus. Dies hat jedoch eine Erosion ihrer Basis sowohl nach links wie nach rechts zur Folge. Mit fatalen Konsequenzen. Denn 1998 geht es nicht nur um diese oder jene Mehrheit zum Regieren. Es geht um die Frage, wer den grundlegenden Systemwandel im Zeitalter des endgültig globalisierten Kapitalismus gestaltet. Setzen sich die marktradikalen Kräfte durch, gehen die Chancen für eine politisch gestaltete Alternative zur Deregulierung gegen Null.
Ein erneuter Wahlsieg der schwarz-gelben Koalition wäre die Gelegenheit, den Übergang von der CDU alten Typs zu einer marktradikalen konservativen Partei im Komfort der Macht zu organisieren. Hier geht es um mehr als nur darum, daß auf Helmut Kohl mit Wolfgang Schäuble ein ebenso beinharter wie realpolitischer Ideologe folgen würde.
Setzt sich auch in Kontinentaleuropa ein weitgehend deregulierter Kapitalismus anstelle eines sozialstaatlich begrenzten durch, wäre ein solcher Sieg auf absehbare Zeit nicht reversibel. Unter den Bedingungen des globalisierten Kapitalismus wird es einen eigenen nationalen Weg zurück in den Fordismus nicht geben. So umstritten eine postfordistische Alternative von links sein mag, so klar ist, daß sie bei der Regelung gesellschaftlicher Konflikte auf die Politik und nicht auf den Markt setzt.
2. Die Zeichen stehen auf Konsenspolitik
Zwar ist eine inhaltliche Polarisierung zwischen den Grünen und neoliberalen Positionen möglich. Diese kann aber machtstrategisch nicht zugespitzt werden.
Trotz der politischen Niederlagen, trotz der offenkundigen Wirkungslosigkeit der eigenen Politik ist das Projekt einer deregulierten „Standort Deutschland GmbH“ nicht aufgegeben. CDU/CSU und FDP halten an ihrem Kurs nachdrücklich fest. Sie werden ihn künftig jedoch eher konsensual als konfrontativ durchzusetzen versuchen. Es wimmelt nur so von Konsensen, die ebensowenig Konsense sind, wie die Abschaffung des Asylrechts ein Kompromiß war.
Krassestes Beispiel ist das vorläufige Ergebnis der Energiegespräche. Dieser Deal ist kein Entsorgungskompromiß, sondern läuft faktisch auf einen Wiedereinstieg der Bundesrepublik in die Atomenergie hinaus.
Das Steuerrecht wird nicht einfacher, sondern bleibt kompliziert. Eingeladen wurde die SPD von der CDU, weil die Koalition hofft, die SPD in die Verantwortung für die Deckung der Haushaltslücke von über 40 Milliarden einbinden zu können, sei es über weitere Sparmaßnahmen oder aber indem man sich zu einer Erhöhung der Mehrwertsteuer nötigen läßt. Die Verlagerung von direkten zu indirekten Steuern führt zu keiner Ökologisierung des Steuersystems. Im Gegenteil, die SPD wird den einzigen ökologischen Aspekt des Koalitionsentwurfs – die autounabhängige Entfernungspauschale – siegreich niederkämpfen.
Großkoalitionäre Lösungen in den Schlüsselfragen politischer Auseinandersetzungen werden zu Friktionen in den rot-grünen Landesregierungen führen, gegen die die Streitereien um Bafög und Sozialhilfe nur ein laues Lüftchen sein werden. Sie drohen die Koalitionsbildung in den Ländern wie im Bund zu torpedieren.
Rot-Grün gerät so unabhängig vom Agieren in den Ländern in schwere Wasser. Wer im Bund zusagt, Ahaus zu erweitern, muß sich über das Echo in Nordrhein-Westfalen nicht wundern. Wer Gorleben und Konrad Frau Merkel zur atomaren Verhüllung überläßt, sollte sich keinen Illusionen über die Schwierigkeiten einer Koalitionsbildung in Niedersachsen im Frühjahr 1998 hingeben.
Für die bundespolitische Auseinandersetzung ist es nicht so sehr von Bedeutung, ob und wie diese Einzelfragen in den Ländern gelöst werden. Entscheidend ist, daß durch diese Entwicklung die Krise zum Alltag und zunehmend zum Synonym für Rot-Grün zu werden droht. Sie desavouiert die einzige machtpolitische Alternative zu Schwarz-Gelb nachhaltig.
Ein zentraler Wahlkampfschlager für die CDU und das dafür notwendige Überleben der FDP wird die Warnung vor Rot-Grün sein. Dabei wird weniger mit Horrorszenarien vergangener Zeiten operiert werden als mit ganz konkreten Erfahrungen. Die Düsseldorfer Koalition steht schon lange nicht mehr vor der Frage, ob sie Geisel für Rot-Grün sein soll. Sie ist schon lange Geisel dagegen.
3. 1998 droht ein Lagerwahlkampf
CDU und FDP werden versuchen, im Wahlkampf andere Themen als die Massenarbeitslosigkeit zu setzen. Die wesentlichen kampagnefähigen Themen neben der Warnung vor Rot-Grün sind heute bereits absehbar. Sie werden um die PDS und um Ausländer, Migration und Kriminalität kreisen. Die Trennlinie bei all diesen Themen läuft durch die SPD und nicht entlang der Linie Regierung contra Opposition.
Deshalb muß der Nutzen einer starken PDS für die CDU klargemacht werden. Gegen die Entwicklung der PDS zu einer in Ostdeutschland regierenden Volkspartei helfen keine prinzipiellen Unvereinbarkeitsbeschlüsse. Die Spaltung des Parteiensystems zwischen Ost und West begünstigt Kohl. Die absehbare Rote-Socken-Kampagne trifft die SPD in ihrem historischen Versäumnis, einen Teil des Erbes der alten SED nicht genauso pragmatisch integriert zu haben, wie das Kohl mit seinen Blockflöten aus Ost-CDU und Bauernpartei getan hat. Heute rächt sich, daß die SPD selbst die Chance einer Entzauberung der PDS an der Macht, als dies noch möglich war, versäumte.
Es wird noch vor der Jahrhundertwende zu einer Koalition zwischen SPD und PDS in Ostdeutschland kommen. Allerdings erst nach der Bundestagswahl. Bündnis 90/Die Grünen ist zu wünschen, daß sie dann nicht als fünftes Rad am Wagen abseits stehen, sondern als Zünglein an der Waage eine Rollen spielen können.
Bei der Bundestagswahl 1998 aber ist eines sicher: Alles andere als eine eigene Stimmenmehrheit von SPD und Grünen läuft auf ein Verbleiben der CDU an der Macht hinaus. Sowohl unter Schwarz- Gelb wie unter Schwarz-Rot würde sie den Kanzler stellen. Wer bei der Bundestagswahl 1998 PDS wählt, entscheidet höchstens mittelbar darüber, ob der Kanzler Kohl oder (in einer großen Koalition) Schäuble heißt. Dies im Wahlkampf rüberzubringen wird eine der Schlüsselfragen für eine andere Mehrheit sein.
4. Modernisierung muß radikal und machbar sein
Die Grünen werden inhaltlich deutlich machen müssen, daß die Einbindung des Nationalstaates Deutschland kein Selbstzweck ist. Der Umbau der Europäischen Gemeinschaft zu einer Festung Europa wäre friedensgefährdend. Wegen der Wahlkampfrelevanz des Europathemas müssen Bündnis 90/Die Grünen ihre Positionen hierzu politisch zuspitzen. Spätestens zum Jahresauftakt werden Bündnis 90/Die Grünen ihre Position zum Euro geklärt haben müssen. Die aktuelle Position nach dem Vorbild von Radio Eriwan – im Prinzip ja, aber eigentlich eher nein – wird nicht durchzuhalten sein.
Bündnis 90/Die
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fast daran. Doch einen Mangel hat der Wandel zur Konzeptpartei nicht beheben können: Das Umsetzugsdefizit bleibt. Und einen Mangel hat dieser Wandel noch verstärkt: Bündnis 90/Die Grünen sind technokratisch geworden. Ihre wesentlichen Ideen und Leitbilder werden nicht mehr wahrgenommen. Die Erotik des notwendig unfertigen großen Entwurfs ist ihnen abhanden gekommen. Nun läßt sich in einer langjährigen Beziehung der one night stand nur schlecht simulieren, dennoch wird die Partei nicht darum herumkommen, sich einer radikalen Überprüfung ihrer programmatischen Leitbilder zu stellen. Jenseits von Alltagspragmatismus muß eine grundsätzliche Alternative wieder deutlich werden.
Im Hinblick auf den Wahlkampf muß jeder Geruch einer rot- grünen Programmatik vermieden werden. Bündnis 90/Die Grünen müssen zunächst für ihre eigenen, grünen Inhalte stehen. Die Machtoption ist sowieso klar. Unsere Politik muß dabei zwei Kriterien genügen. Sie muß erfahrbar und sie muß machbar sein.
Die Grünen müssen vor allem wieder kampagnenfähig werden. Das gilt vor allem für den Kernbereich grüner Programmatik. Umweltpolitik darf nicht zur Spezialistenfrage verkommen. Auch ist es nicht länger hinnehmbar, daß die selbstgefällige Blockade einer grünen Außen- und Sicherheitspolitik durch eine Fraktionsmehrheit jegliche, auch konsensuale Aktivität verhindert.
Dafür gibt es Bündnispartner weit jenseits des Parteienspektrums. Das Verhältnis zwischen Grünen und Gewerkschaft ist heute entspannt und freundlich. Es bestehen in der Frage des Erhalts des Sozialstaates erhebliche Gemeinsamkeiten. Eine Antwort auf den Lagerwahlkampf von rechts muß eine gesellschaftliche Polarisierung sein, die über die Abwehrparolen von Solidarität statt Ellebogen hinausgeht. Bündnis 90/Die Grünen müssen eine grundsätzliche Alternative zum Gesellschaftsmodell der Neoliberalen formulieren.
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