: Unsichere Sicherheit
■ Die Gewerkschaft der Polizei gerät ins Grübeln
„An meinem Kindbett standen zwei Gevatterinnen, die leibliche Mutter und die Furcht.“ Thomas Hobbes hat in der frühen Neuzeit diese Metapher gebraucht, um das Sicherheitsbedürfnis seiner vom Bürgerkrieg gebeutelten Generation auf den Punkt zu bringen. Und heute, am Ende der späten Neuzeit? Müssen wir nicht unsere Vorstellung, wovor wir uns zu fürchten haben, was mithin Sicherheit sei, um eine entscheidende, die ökologische Komponente erweitern? Das war die Meinung von André Gorz zu Beginn der 80er. Und diese Meinung hat sich in den letzten 15 Jahren durch die deutsche Gesellschaft gefressen. Sie ist jetzt bei denen angelangt, die von Berufs wegen mit Sicherheit und Ordnung befaßt sind. Der Chef der Gewerkschaft der Polizei gab im Interview zu bedenken, seine Kollegen würden, zum Schutz des Castor-Transportes eingesetzt, von der Mauer der Demonstranten an die Behälter gedrückt und damit unter Umständen gesundheitsgefährdenden Strahlungen ausgesetzt.
Zwei Aspekte sind dabei bemerkenswert: Nicht die „Chaoten“ sind länger der Gefahrenherd Nr. 1. Sie fungieren nur noch als Glied in der Gefährdungs-Kausalkette, bestenfalls als mittelbare Täter. Und jene, die ursprünglich die Definitionsmacht über Technikfolgen hatten, z.B. die deutsche Gesellschaft für Reaktorsicherheit, können nicht mehr hoffen, daß die Treuepflicht des Polizeibeamten sich auf offiziöse Strahlungsgutachten erstreckt.
Schon seit Jahren rumort in den Polizeigewerkschaftsgremien die Auseinandersetzung über das legitime Gewaltmonopol des Staates. Dabei geht es natürlich nicht in erster Linie um die Grenzen des Staatszwangs gegenüber Rechtsverletzern, sondern um die Grenze dessen, was den Beamten im Einsatz legitimerweise zugemutet werden kann. Als illegitim werden zunehmend Einsätze empfunden, bei denen der Rückbezug auf irgendeine Vorstellung von Gemeinwohl verschwimmt, denen das Privatinteresse allzu deutlich auf die Stirn geschrieben ist.
Die Anti-Castor-Aktivisten haben diese Entwicklung erkannt. Nicht länger mehr schallt den Bereitschaftspolizisten das „Ich kann nichts, ich bin nichts, gebt mir eine Uniform“ entgegen. Und immer greifbarer wird ein gemeinsames Sicherheitsbedürfnis. Früher nannte man das erfolgreiche Zersetzungsarbeit. Christian Semler
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