: „Der Widerstand lebt von der Abweichung vom Ritual“
■ Der Hannoveraner Jurist und Politologe Jürgen Seifert über die Strategien von Polizei und Demonstranten
taz: Herr Seifert, es wird den Castor-Gegnern wahrscheinlich auch dieses Mal nicht gelingen, den Transport zu verhindern. Eine Niederlage?
Jürgen Seifert: Jein. Die Auseinandersetzung zwischen Polizei und Demonstranten ist ja ein Stellvertreterkrieg. Beide Seiten wissen, daß es vor allem um Symbolik geht. Die Demonstranten wollen mit aller Entschiedenheit zeigen, daß sie ihre Heimat verteidigen. Sie wehren sich mit Phantasie und versuchen Sympathien zu gewinnen.
Das heißt, Sieg oder Niederlage entscheiden sich nicht daran, ob der Transport ankommt, sondern an anderen Kriterien – zum Beispiel daran, ob es gelingt, den Transport teuer zu machen?
Das ist eine zur Zeit zwar populäre, aber überschätzte These. Für die Castor-Gegner ist dieses Motiv nicht so wichtig. Die Politik hat gedacht, die Gegner würden klein beigeben, nachdem man die ersten Castor-Transporte durchgesetzt hatte. Eine Fehleinschätzung.
Die Konfrontation verläuft in ritualisierten, ziemlich gewaltfreien Formen: Die Demonstranten blockieren den Transport, die Polizei räumt, die Demonstranten blockieren wieder woanders ...
Ja, richtig. Aber das Wichtige ist die Abweichung vom Ritual, die neue, überraschende Form. So gab es dieses Mal die Burg der verketteten Traktoren und daß Leute sich in Betonfässern auf die Gleise legen. Das gab es früher nicht. Und von diesem Neuen, von der Phantasie, lebt der Widerstand. Das weiß auch die Bürgerinitiative. Mit diesen Widerstandsformen durchkreuzen sie auch das Feindbild, das der Verfassungsschutzbericht zeichnete: der gewaltlose Widerstand sei nur Unterstützung für die Chaoten. Auch dagegen richten sich diese Aktionen. Das ist in 20 Jahren gewachsener Widerstand.
Ist dieser zivile Widerstand demgemäß eine PR-Aktion für Anti-Atom-Politik?
Ich würde es lieber symbolische Politik nennen. Vieles von dem, was in Bonn passiert, ist auch nichts anderes als symbolische Politik. Warum soll eine Bürgerinitiative nicht ähnlich verfahren?
Also ein Spiel zwischen Polizei und Demonstranten ...
Spiel ist nicht ganz das richtige Wort. Es ist eher ein Kampfspiel. Der Einsatzleiter beim ersten Castor-Transport wußte natürlich genau, in welchem rechtlichen Rahmen er sich bewegt, wie die Verfassungsgerichtsurteile aussehen etc. Die Feindbildproduktion – wer für gewaltlosen Widerstand ist, hilft den Chaoten – läuft im Bundestag. Das ist ein Schema, das wir aus den Terroristenprozessen und der Propaganda gegen Sympathisanten kennen. Das ist gefährlich, weil einzelne Polizisten durchaus ausrasten können und sich dadurch ermutigt fühlen.
Die Polizeispitze vor Ort hat Ihrer Einschätzung nach aber ein Interesse an Deeskalation?
Ich glaube, ja.
Man könnte die Auseinandersetzungen als eine Inszenierung beschreiben, in der Polizei und Demonstranten um die Gunst des Publikums ringen, das vor den Bildschirmen sitzt.
Ja und nein. Die Leute, die dort handeln und vielleicht verprügelt werden, haben gewiß nicht das Gefühl, in einem Theaterstück zu spielen. Das Bild des Theaters trifft vielleicht eher bei den Turnhallenbesetzungen zu. Im Theater ist die Handlung festgeschrieben, hier existiert das Unvorhersehbare. Außerdem haben beide Seiten Angst, auch die Polizisten. Schauspieler haben keine Angst. Sie haben aber recht, wenn Sie von einer Dramaturgie sprechen. Es gibt einen Kampf um Bilder, die beide Seiten für sich auszunutzen versuchen. Die Demonstranten versuchen ein David-gegen-Goliath-Bild zu entwerfen: friedlicher Protest gegen die übermächtige Staatsgewalt. Der Staat versucht das Bild zu entwerfen: Dort sind Gewalttäter am Werk, gegen die man mit Härte vorgehen muß.
Robert Jungk hat analysiert, daß der Atomstaat immer vehementer gegen seine Gegner vorgehen und die Demokratie einschränken muß. Sie aber sagen nun: Es hat sich eine einigermaßen zivile Form des Polizeieinsatzes herausgebildet mit Regeln, die meistens eingehalten werden. Hatte Jungk unrecht?
Nein, ich würde Jungk nicht vollständig widersprechen. Man kann ja auch nicht ausschließen, daß es zu einer Eskalation kommt, wenn die Verzweiflung der Demonstranten wächst oder Polizisten ausrasten. Denn das Schlimme ist, daß Politik und Medien Gewaltlosigkeit nicht honorieren. Es kostet ja ungeheure Kraft und Disziplin, sich zusammenknüppeln zu lassen. Einen Stein zu werfen ist ja viel einfacher. So kann sich das hochschaukeln. Jetzt sind 30.000 Polizisten im Einsatz, mehr als je zuvor. Das entspricht leider schon dem, was Jungk prognostiziert hat. Interview: Stefan Reinecke
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