: Litauisches AKW ohne Notbremse und Handbuch
■ Alarmierendes Gutachten über Ignalina: Die Notabschaltung der Atommeiler vom Tschernobyl-Typ funktioniert nur, solange die Hauptkontrolle in Ordnung ist
Oslo (taz) – Das AKW Ignalina muß sofort abgeschaltet werden. Zu diesem Ergebnis kommt eine Gruppe westlicher AtomexpertInnen, die das litauische AKW im Auftrag der Europäischen Investitionsbank zwei Jahre lang auf Naht und Bolzen untersucht hat. Die bislang gründlichste Kontrolle eines Atomkraftwerks im ehemaligen Ostblock enthüllt derart grundlegende Sicherheitsmängel, daß die litauische Regierung ihn gleich als „geheim“ stempelte und in den Aktenschränken verschwinden ließ. Zu ihrem Pech gingen aber Kopien des Berichts unter anderem auch an die skandinavischen Strahlenschutzbehörden. Die veröffentlichte vergangene Woche in Oslo Einzelheiten des Gutachtens über die zwei 1.500-Megawatt-Reaktorblöcke vom Tschernobyl-Typ.
Der schwerste Fehler steckt ausgerechnet in der Notabschaltung: Sie arbeitet nicht wie üblich autark, sondern funktioniert nur dann, wenn auch die Hauptkontrolle des Atomkraftwerkes in Ordnung ist. Wird diese durch einen Unfall lahmgelegt, ist die Kernreaktion nicht mehr zu stoppen. Dieser bislang völlig unberücksichtigt gebliebene Konstruktionsfehler könne nur durch Austausch des gesamten Kontrollsystems behoben werden, erklärte die staatliche norwegische Strahlenschutzbehörde.
Auch die „Sicherheitskultur“ des litauischen AKWs liegt schwer im argen: Für den Großteil möglicher Unglücksszenarien existieren keinerlei schriftliche Checklisten, nicht einmal ungefähre Verhaltensregeln seien notiert. Falls ein Unglück geschehe, sei dessen Handhabung völlig davon abhängig, welches Personal sich gerade am Platz befinde. Demnach käme es darauf an, daß die Angestellten sich im Streß an die richtigen Handgriffe erinnerten – nach Auffassung der ExpertInnen eine gefährliche Überforderung des „menschlichen Faktors“.
Das Gutachten offenbart, daß ein Großteil des westlichen „Nachbesserungsarbeiten“ der letzten Jahre in den Sand gesetzt wurden. Da sei nur an Symptomen herumgedoktert worden, an den grundlegenden Systemfehlern änderte sich jedoch nichts. Über die ganz spezielle Brandgefährlichkeit von Ignalina wurden bereits mehrere Berichte veröffentlicht, verschiedene Hilfsprogramme der EU und der skandinavischen Länder zielten besonders auf diesen Schwachpunkt. Der neue Bericht macht deutlich, daß nach wie vor im Falle eines Brandes in Rekordzeit alle grundlegenden Sicherheitssysteme des AKWs der Reihe nach ausfallen würden. Ignalina – ein Reaktor ohne Notbremse, Bedienungsanleitung und brandgefährlich wie ein Heuhaufen.
Kein Wunder, daß die Europäische Investitionsbank empfiehlt, keinen Pfennig mehr in das AKW zu stecken und statt dessen lieber bei der Regierung in Litauen auf umgehende Abschaltung zu drängen. Eine im Bericht zitierte ExpertInnengruppe hält das dagegen für undenkbar: Angesichts der fast vollständigen Abhängigkeit des Landes vom Ignalina-Strom ist zumindest eine vorübergehende Abschaltung nun im Frühjahr bis in den Spätsommer hinein unumgänglich, um die schlimmsten Mängel zu beheben. Einhellig aber empfehlen Investitionsbank und die ExpertInnen-Gruppen, sofort mit dem Bau alternativer Kraftwerke in Litauen zu beginnen: Die Abhängigkeit von Ignalina-Strom und -Fernwärme müsse schnellstens beendet werden. Der Westen tue im ureigensten Sicherheitsinteresse gut daran, ein entsprechendes Finanzierungsprogramm ganz oben auf die Prioritätenliste zu setzen. Reinhard Wolff
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