: Hinweise, die den meisten zu winzig sind
■ Ernste Witze: Jurek Becker konnte in E und U davon erzählen, daß es nicht sinnlos ist, sich zu wehren. Zu seinem Tod ein Porträt aus dem Tchibo-Recorder
„Ah, Journalisten! Immer dasselbe!“ Jurek Becker stürmt in den hinteren Teil seiner Wohnung. Man kann ihn in Schubladen wühlen und fluchen hören. Auch bei der dritten Tonprobe hatte der blitzneue High-Tech-Recorder der Interviewerin wieder nur ein blödes Rauschen von sich gegeben. Becker stürzt in den Raum zurück und wirft einen uralten schwarzen Kasten auf den Tisch. „Tchibo, zwölf Jahre alt, zweiundfünfzig Mark! Aufnahme hier, Stop hier, sonst nichts, funktioniert immer. Los jetzt!“ Bloß kein Firlefanz, keine Fisimatenten. Und Professionalität über alles.
Jurek Beckers Witze und seine Gags, die bissigen Anekdoten und trickreichen Sottisen gehörten dazu, ebenso grienendes Lachen, Gelächter. In der Schriftfassung eines langen Gesprächs stand daher häufig in Klammern „lacht“ hinter seinem Namen. „Bis zum zehnten Mal find' ich das absolut okay, wirklich, gefällt mir!“ Becker grinst. „Aber danach denken die Leute, wir haben zusammen ein paar Flaschen geleert und nur Albernheiten geredet.“ Nichts zu machen: Auch die Witze noch waren ernst gemeint, eine andere Form einfach, Ernsthaftes leichter zu sagen.
„Und noch was“, Becker kneift die Augen zusammen und tippt auf ein Manuskript, das vor ihm auf dem Tisch liegt. „Was sind das für Unverschämtheiten! ,Altbackener Kunstbegriff‘, ,unfähig zur Trennung von Kunst und Politik‘, ,selbst nach der Wende noch Sozialist, oder jetzt womöglich erst recht‘... Was für ein verdammter Blödsinn ist das? In einem Buch über mich möchte ich so was nicht gedruckt sehen. Aber natürlich überlasse ich Ihnen die Entscheidung.“ Jurek Becker konnte auch sehr überzeugend gekränkt sein.
Wie auch anders. „Wenn ich einen sagen höre“, erklärte er 1983 in seiner Antrittsrede den Mitgliedern der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, „er fühlte sich in einer Sprache zu Hause, kann ich nur dünn vermuten, was er damit meint. Es geht mir dann auch durch den Sinn, daß sein Verhältnis zu seiner Sprache am Ende so ist wie meins zur deutschen und daß er dies Verhältnis eben mit den Worten ,zu Hause‘ bezeichnet. Ich will nicht sagen, daß ich mich unwohl darin fühle, das nicht. Doch es fehlen mir Vertrautheit und eine Sicherheit, die zum ,Zuhausesein‘ wohl gehören. Ich dagegen muß (...) gewissermaßen lernen, auf die Blicke der Zuhörer zu achten und Hinweise zu erkennen, die den allermeisten allein schon deshalb zu winzig sind, weil sie keine Hinweise brauchen.“
Jurek Becker brauchte Hinweise, nicht einmal sein Geburtsdatum war gewiß. Um ihn vor der Deportation zu bewahren, gab der Vater den in Lodz geborenen Sohn als älter aus, später konnte er sich an das richtige Datum nicht mehr erinnern. So war schon der amtliche Anfang dieser Vita, der 30. September 1937, eine Fiktion. Und als Geschichte wider alle Wahrscheinlichkeit ging sie weiter. Aufwachsen im Ghetto, Überleben in Ravensbrück und Sachsenhausen, getrennt vom Vater, die Mutter umgekommen, mit dem Vater nach Kriegsende wieder zusammengeführt durch eine amerikanische Suchorganisation, danach: Berlin/DDR. Das Kind, neunjährig in der ersten Klasse, mußte Deutsch erst einmal lernen.
Danach aber sieht alles zunächst ganz glatt aus: FDJ, mit 18 in die Partei, Abitur, NVA, Philosophiestudium: „Ich wollte aufhören, ein ,anderer‘ zu sein, so unauffällig wie möglich.“ Aber es ging nicht. „Die Erwartung, die man an werdende Philosophen in der DDR stellte, und die Aussichten, die ich bot, waren so verschieden, daß kein gutes Ende abzusehen war.“ Kein gutes Ende in der Beziehung zur Partei wenigstens. 1960 flog Jurek Becker von der Uni und wurde Drehbuchschreiber, seit 1969 mit fester Anstellung bei der DEFA, und die Filme hießen „Wenn ein Marquis schon Pläne macht“ (1962) oder „Jungfer, sie gefällt mir“ (1968). Manfred Krug hatte Becker übrigens als Student kennengelernt, 1957 teilten sie sich in Berlin eine Wohnung über einer aufgegebenen Drogerie, und Beckers erster Roman, „Jakob der Lügner“ (1969), der ihn gleich berühmt machte, war aus einem von der Zensur abgelehnten Drehbuch hervorgegangen.
Der Autor von „Liebling Kreuzberg“, mit dem die Germanistik ihre blinde Not hat, so daß sie ihn über dem Verfasser der Holocaust-Trilogie „Jakob der Lügner“, „Der Boxer“ (1976) und „Bronsteins Kinder“ (1987) und den DDR-Chroniken „Irreführung der Behörden“ (1973), „Schlaflose Tage“ (1978) und „Amanda herzlos“ (1992) lieber nicht genauer bedenkt – der Film- und Fernsehmann Jurek Becker also hat sich mitnichten erst in der kapitalistischen BRD zum kommerziellen Genre bekehrt. „Ich hab' einige Geschichten erzählt, die ich mit meinem Geschmack für vertretbar hielt“, sagte Becker 1991 in einem Werkstattgespräch.
Das Bestehen auf dem eigenen Kopf hatte ihn 1977 aus der DDR herauskatapultiert, seit 1979 mit einem Zehnjahresvisum, das 1989 dann keiner Verlängerung mehr bedurfte. In seiner literarischen Ästhetik tatsächlich eher der altmodisch-moderne Erzähler mit aufklärerischen Zecken, in Fernsehserien und Filmen der ambitionierte Unterhalter mit kompetentem Know-how und kongenialem „Liebling“-Darsteller, schaffte der DDR-Nationalpreisträger Jurek Becker einen Spagat, der seinen mit allen Westwassern gewaschenen Schreibkollegen sichtlich schwerfällt: die Kombination von U- und E-Literatur. Soll man so einen in den Dichter-Olymp aufnehmen oder zu den Handwerkern zählen?
Weiß Gott, das sind Sorgen einer verspäteten Nation, die nicht zuletzt von ihrer eigenen mörderischen und geteilten Geschichte nicht gern allzuviel wissen möchte. „Ich habe schon tausendmal versucht, diese verfluchte Geschichte loszuwerden, immer vergebens“, hieß es 1969 bereits in „Jakob der Lügner“. Jurek Becker hat sie sehr ernst genommen, er konnte nicht anders. Aber er hat sie auch übertragen in die mediale Gegenwart, wenn er etwa von der „Liebling“- Serie hoffte, sie habe „vielleicht ein wenig das Bewußtsein gestärkt oder geweckt, daß es nicht sinnlos ist, sich zu wehren“.
Mitleidlos im Urteil über die DDR wie über die vereinigte BRD, ein Jude, Pole, Deutscher, Inhaber des Grimme-Preises wie des Filmbands in Gold, dazu Heinrich-Mann-Preisträger und Stadtschreiber von Bergen-Enkheim: Jurek Becker, für den Erzählen eine „Überlebensstrategie“ war, fragte sich 1988, als er noch in einen Staat namens DDR hätte zurückgehen können: „Mein Gott, wie lange lebe ich, habe ich das nötig, habe ich Zeit dafür, und lohnt es sich?“ Nun sind die Fragen alle beantwortet, aber der Widerspruchsgeist selbst fehlt sehr: seine Wut, sein Charme, sein Erzählen, sein Witz. Und schließlich auch dieser gräßliche, alte, impertinent funktionierende Recorder. Frauke Meyer-Gosau
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