■ Albanien braucht „Ernüchterungssachverständige“, die die zarten Ansätze einer „società civile“ stützen: Komm zurück, kleiner Staat!
Hinter Ulrich Wickerts Rücken war das mit dem schwarzen Adler dekorierte, blutrote Skipetarenbanner an der Wand befestigt. Davor lehnte eine Kalaschnikow, ganz so, als habe sie der Moderator der „Tagesthemen“ mal eben abgestellt, um die samstäglichen Nachrichten zu verlesen. Anarchie in Lokstedt! Dem Schauder folgt angenehme Entspannung. Das Gewaltmonopol in der Bundesrepublik ist gleich dreifach abgesichert: Bundeswehr, Bundesgrenzschutz, Polizeien der Länder. Lang lebe der Prozeß der Zivilisation!
Jeder gegen jeden – die Meldungen aus Albanien hören sich wie ein Situationsbericht kurz vor Abschluß des Unterwerfungsvertrags an, den Hobbes im „Leviathan“ geschildert hat. Mit der Knarre in der Hand wird die schäbige Beute bewacht, die ein Raubzug im Lebensmitteldepot, im Institut für Agronomie der Universität Tirana oder beim Laden um die Ecke eingebracht hat. Wie schon zu Anfang der neunziger Jahre, als das realsozialistische Regime weggefegt wurde, verfallen selbst Einrichtungen, deren Nutzen für das Gemeinwohl offensichtlich ist, der Zerstörungswut.
Von ungeübten Händen gesteuerte Panzer rattern durchs Gelände, bis der Sprit ausgeht. Die Staatsgewalt in Form von Armee, Polizei und öffentlicher Verwaltung hat sich aufgelöst oder ist abgetaucht. Was an politischen Forderungen artikuliert wird, ist entweder nutzlos oder nicht zu verwirklichen. Denn der Rücktritt von Sali Berisha bringt den Leuten, die den letzten Hosenknopf verscheuert haben, um sich am Pyramiden-Schwindel zu beteiligen, ihr Geld nicht zurück. Niemand in Albanien oder anderswo wird es zurückzahlen können.
Diese Situation mit vorrevolutionären, gar mit Zeiten des politischen Anarchismus zu vergleichen heißt, die Anomie, die Herrschaft der Gesetzlosigkeit, mit der Gesellschaft in Aktion zu verwechseln. Als die Anarchosyndikalisten bzw. die Anarchisten während des Spanischen Bürgerkriegs ihre befreiten Gebiete errichteten, stützten sie sich auf ein System eingespielter Institutionen, auf verbindliche moralische und politische Normen, auf eine Vorstellung von Autonomie, die in strikter Weise auf das Gemeinwohl der Kommunen ausgerichtet war. Moralität und Gesetzestreue der Anarchisten bildeten schließlich über Generationen hinweg den Gegenstand wohlmeinenden Spotts im revolutionären Milieu.
Der große, vergessene Theoretiker des Marxismus, Antonio Gramsci, hat, als er das Verhältnis von Staat und Gesellschaft im Westen und in Rußland untersuchte, folgende grundlegende Differenz festgehalten: „Im Osten bedeutete der Staat alles, und die società civile war wenig entwickelt und gallertartig; im Westen war zwischen Staat und società civile eine geregelte Beziehung vorhanden, und wenn der Staat ins Wanken geriet, kam die tragfähige Struktur der società civile zum Vorschein. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, mit massiv verbunkerten Festungsanlagen im Rücken“ (Quaderni II, S. 865f.).
Wenn wir die militärische Metaphorik Gramscis zurückübersetzen, so bedeuten die „verbunkerten Festungsanlagen“ nichts anderes als das Gewebe der bürgerlichen Gesellschaft, wozu auch ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation vor allem in Krisenzeiten gehört. Keine auf Dauer siegreiche Revolution ohne die Vorherrschaft der Revolutionäre in dieser „Tiefenstruktur“. Wo die „Festungsanlagen“ fehlen, mag ein schneller Sieg im „Bewegungskrieg“ möglich sein. Aber dann stehen die Revolutionäre vor der Aufgabe, sie nachträglich zu errichten.
Für Albanien gilt, daß die Herrschaft der Realsozialisten die vorhandene archaische Gliederung der Gesellschaft zwar weitgehend zerschlug, aber daß die neuen Formen der Vergesellschaftung, Gewerkschaften, Komitees, Verbände, die an deren Stelle gesetzt wurden, durch Terror erzwungen und scheinhaft waren. Dies nicht zu erkennen, Scheinveranstaltungen für unmittelbare Demokratie zu nehmen war der Grundirrtum der Albanienliebhaber gewesen.
Schon zu Beginn der 90er Jahre fiel die albanische Gesellschaft nicht in Organisationsformen zurück, die vor der staatlichen Unabhängigkeit Geltung hatten. Die Ablösung realsozialistischer Herrschaft hinterließ ein verwüstetes Terrain. Eine gutausgebildete, weithin alphabetisierte Bevölkerung stellte die Arbeit ein, ein Zustand, den Marx auch nur für einen Tag als unvorstellbar angesehen hatte. An die Stelle der Produktion trat die Lebensmittelversorgung durch die EU.
Es gibt in Albanien aber auch eine wenngleich minderheitliche gesellschaftliche Gegenbewegung: junge Leute, die auf das vergitterte Fenstersims der Bäckereien klettern, um den Alten, die es nie im Leben geschafft hätten, sich durch den Knäuel zu drängen, ihren Brotlaib rüberzureichen. Unbewaffnete Zivilisten, die gegen die Knallerei vorgehen. Dies mit dem Hinweis, dadurch würde die westliche Hilfsbereitschaft untergraben. Leute, die sich spontan zusammenschließen, um die Strom- und Wasserversorgung wieder in Gang zu setzen. Die vor dem Delirium nicht kapitulieren, nicht die Lösung „Exit“ wählen. Die mit der machtlosen Zentralregierung Kontakt aufnehmen und dennoch den Sturz Berishas fordern. Sie bilden den Kern einer spontan entstehenden „società civile“ und nicht das Gros der demobilisierten Armee- und Geheimdienstoffiziere, die die Macht vielerorts an sich gerissen haben.
Die Idee, Waffen zurückzukaufen und schießwütige Plünderer oder entlassene Militärs als opulent bezahlte Hilfspolizisten einzustellen, ist der anomischen Situation angemessen und so aberwitzig, daß sie zeitweilig sogar Erfolg haben könnte. Denn vielen, die jetzt ein Sturmgewehr übers Sofa gehängt haben, dient die Waffe nicht nur als Ausweis der Virilität. Sie wird samt Munition als Tauschobjekt gehortet, um Schadensersatzforderungen gegenüber dem Staat Nachdruck zu verleihen.
OSZE und EU sollten diese „Integrationsmaßnahmen“ der albanischen Regierung nicht unterstützen. Sie sollten Expertenteams zur Unterstützung des kommunalen Wiederaufbaus schicken, Ernüchterungssachverständige. Es gibt Länder, z.B. Norwegen, die furchtlose Spezialisten für solche Fälle ausgebildet haben und sofort einsetzen können. Aber in Deutschland, dem Musterland des staatlichen Gewaltmonopols, steht offenbar eine andere Art von Helden in Kurs: „unsere“ Panzergrenadiere, die „unseren“ Hubschraubern den Weg zur Rettung „unserer“ Deutschen frei geschosssen haben. Christian Semler
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