: Ein Geschenk der Großmächte
Sigmar Stopinski zerstört einen Mythos. Nicht der eigene Kampf, sondern die Schwäche der Großmächte bescherte den baltischen Ländern nach 1919 und 1991, die ersehnte Selbständigkeit ■ Von Mareile Ahrndt
Die Hauptthese von Sigmar Stopinski ist kühn: Das Baltikum sei ohne eigenes Zutun unabhängig geworden, nach dem Ersten Weltkrieg wie auch nach 1991. „Selbst die politischen Sprecher der Esten, Letten und Litauer hatten anfänglich kein Interesse an der Entstehung unabhängiger baltischer Staaten“, schreibt der Berliner Historiker in seiner kürzlich erschienenen Arbeit „Das Baltikum im Patt der Mächte. Zur Entstehung Estlands, Lettlands und Litauens im Gefolge des Ersten Weltkrieges“. Wie kamen die Balten also zu ihrer Unabhängigkeit? Die Schwäche der Großmächte, ihre gegenseitige Blockade hätten sie erst ermöglicht – beziehungsweise nicht verhindert. Die Studie stellt ohne Umschweife fest, daß die Großmächte das Recht auf Selbstbestimmung nicht wirklich anerkennen, sondern je nach Interessenlage vorschieben oder unter den Tisch fallen lassen.
Stopinski teilt folgerichtig ein in „deutsche Baltikumspolitik“ und „russische Baltikumspolitik“ – Fortsetzung seiner These, daß Estland, Litauen und Lettland ihre Geschichte eben nicht selbst bestimmten. Jenes „Patt der Mächte“ wird in „Interessen Deutschlands, Rußlands und der Alliierten im Baltikum nach Kriegsende“ abgehandelt. Und Stopinskis letztes Kapitel endet mit einem Fragezeichen: „Geschenkte Unabhängigkeit?“
Neue deutsche Ostseeprovinz – das schwirrte lange in den Köpfen der Deutschen herum. Daß die Besetzung machbar sei, darauf haben sie die Baltendeutschen gebracht. Als Wilhelm II. an die Macht kam, ließen sie ihren adeligen Einfluß spielen. Ihre Befürchtung, „von Rußland massakriert zu werden“, sollte die Brüder aus dem Deutschen Reich zum Einmarsch bewegen. Dem verliehen die Baltendeutschen das Deckmäntelchen des allgemeinen Interesses, indem sie mit nicht ganz sauberen Mitteln für Unterschriftenlisten sorgten, auf denen auch Esten, die nicht deutschstämmig waren, um Schutz ansuchten. Als das deutsche Militär dann das Baltikum annektierte, stärkte es die Macht der ohnehin mächtigen Baltendeutschen und unterband politische Regungen der Balten. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde, so Stopinski, von den Balten als Ausbruch aus der erzwungenen Passivität gesehen: Aktives Handeln wurde möglich, und zwar eines, das sich gegen den innenpolitischen Feind, gegen die Baltendeutschen, richten konnte. Es war zunächst ein Kampf gegen die Unterdrückung durch die baltendeutsche Oberschicht und nicht ein Kampf für einen eigenen Staat.
Das Gezerre zwischen den Großmächten setzt sich in der Geschichte des Baltikums fort. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Baltikum für die Alliierten ein „landgewordenes Bollwerk“ gegen die kommunistische Revolution. Ansonsten war ihnen das Schicksal des Baltikums gleichgültig. Genauso wie 1991 – da hatte nur das schwache Rußland eine eindeutige (ablehnende) Haltung zu den Tendenzen der baltischen Republiken, sich selbst zu verwalten. Im Strudel der allgemeinen Unabhängigkeitserklärungen wurde mehr daraus. Die Balten „haben ihre Unabhängigkeit nicht selbst erkämpft“, sie war ein unverhofftes Geschenk.
Die bekannteren Wissenschaftler vor Stopinski haben vieles getan, aber nicht eine virulente Unabhängigkeitsbewegung im Baltikum angezweifelt. Der in Narva, Estland, geborene Gert von Pistohlkors, Jahrgang 1935, attestiert den Balten in „Die historischen Voraussetzungen für die Entstehung der drei baltischen Staaten“ (in Boris Meissner: „Die baltischen Nationen“, Markus Verlag, 1991) den „festen politischen Willen“ in einem selbständigen Staat zu leben: „Trotz vielfältiger Einwirkungen von außen haben sie sich schließlich selber unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker durchgesetzt, begünstigt durch wechselnde Gewichtsverteilungen, die Freiräume zuließen.“ Das heißt nichts anderes, als daß der Wille zur Eigenstaatlichkeit als Grund für ihr Erreichen hingestellt wird.
Um dies zu belegen, muß, wie Stopinski kritisiert, gegen die historische Quellenlage angeschrieben werden. Objektive Forschung sei so nicht zu erwarten. „Die Publikationen, in denen die Entstehung der baltischen Staaten rekonstruiert wird, spiegeln häufig auch andere als nur wissenschaftliche Interessen wider. Es hat den Anschein, daß ein Teil der Literatur dazu dient, die Staatsgründungen mit einem Mythos zu untermauern und zu legitimieren, selbstgefällige Geschichtsbilder zu entwerfen, politische Niederlagen umzuwerten oder Lebensläufe schönzufärben.“
Stopinski, geboren 1954, steht für den Generationswechsel: Anders als die oft persönlich in die Geschichte verstrickten Wissenschaftler geht er ohne Pathos und ohne Gram an das Thema. Auch kann er die Rolle der Baltendeutschen neu bewerten – das Interesse älterer Wissenschaftler beruhte oft auf ihrer baltendeutschen Herkunft – und ihre Beurteilungen ebenso. Was in seinem Buch fehlt, ist das konsequente Weiterdenken: Wenn ein Land keine starke Unabhängigkeitsbewegung hat, wie verläuft dann der Prozeß der Staatenwerdung? Stopinski geht seitenweise auf die innere Entwicklung Rußlands und Deutschlands ein, was keine direkten Schlüsse auf das Baltikum zuläßt. Noch dazu muß der Leser die ganze Masse Text durchwälzen, denn die Kapiteleinteilung ist derart grob, daß ein ausgewähltes Nachschlagen unmöglich ist.
Mit diesem Band, publiziert in der Reihe „Nordeuropäische Studien“, sollen neue Signale von den Regionalwissenschaftlern ausgehen: raus an die Öffentlichkeit. Dazu paßt gut, daß in Stopinskis Buch endlich ein politisches Konzept gegenüber den baltischen Staaten gefordert wird, was derzeit nicht zu sehen ist. So bringt die politische Ideenlosigkeit Westeuropas nun Historiker dazu, Impulse zu geben. Wenn das kein Angebot ist.
Sigmar Stopinski: „Das Baltikum im Patt der Mächte. Zur Entstehung Estlands, Lettlands und Litauens im Gefolge des Ersten Weltkrieges“. Arno Spitz Verlag, Berlin 1997, 276 S., 68 DM
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