Tarifverträge auf den Müll

■ Mit dem geplanten Austritt aus dem Arbeitgeberverband holen die Baufirmen nach, was in vielen Dienstleistungbetrieben schon üblich ist: Tarifverträge werden ausgehöhlt oder gar nicht erst eingeführt

Die Rechte der ArbeitnehmerInnen werden zunehmend ausgehöhlt. Nach dem Austritt der kleinen und mittleren Baufirmen aus dem Arbeitgeberverband droht jetzt Zehntausenden Beschäftigten die Senkung ihrer Löhne. Erstmalig erklärt damit eine traditionelle Branche den Flächentarifvertrag für überflüssig. Die Bauunternehmen orientieren sich freilich nur an dem, was in den modernen Dienstleistungsfirmen bereits üblich ist. Die Beschäftigten der jungen Betriebe der Telekommunikation und Datenverarbeitung kommen fast nie in den Genuß von tariflichem Schutz.

Kaspar-Dietrich Freymuth, Präsident der Fachgemeinschaft Bau Berlin-Brandenburg, begründete den Austritt mit den zu hohen Lohnkosten. Was Betriebe in Bayern ihren Arbeitern zahlen könnten, sei für Berliner Unternehmen oft der erste Schritt zum Konkursrichter. Die Fachgemeinschaft will sich deshalb aus den bundesweiten Verhandlungen ausklinken und einen regionalen Tarif vereinbaren. Die niedrigeren Löhne sollen die Firmen vor dem Ruin bewahren.

Derart massive Attacken sind in den traditionellen Branchen wie Bau, Metall und Chemie neu. Achim Neumann, Mitarbeiter der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen, kennt die Deregulierung allerdings schon aus dem Bereich der sogenannten Wirtschaftsdienste. In den modernen Unternehmen der Datenverarbeitung, Medien und Telekommunikation „entstehen neue Strukturen, mit denen die Gewerkschaft nicht zurechtkommt“, sagt Neumann. Die jungen Betriebe sprießen wie die Pilze aus dem Boden, doch es gibt keine einheitliche Gewerkschaft für diese Bereiche. Die Folge: Die meisten dieser Betriebe haben keine Tarifverträge. Die Löhne liegen oft um 1.500 Mark unter dem, was in vergleichbaren Branchen gezahlt wird.

Wie am Bau setzt die Erosion der Arbeitnehmerrechte häufig bei den kleineren Betrieben ein. Während die Konzerne Sozialleistungen aus ihren hohen Gewinnen durchaus bezahlen können, stehen Firmen mit bis zu 20 Beschäftigten unter großem Druck. Im Einzelhandel, so weiß HBV- Mitarbeiter Neumann, drohen Mitglieder mit Austritt aus den Verbänden, weil ihr Umsatz durch die niedrige Nachfrage sinkt.

Im Osten ist der Tarifvertrag ohnehin ein weithin unbekanntes Stück Papier. Nach einer Erhebung der IG Metall gehören in Berlin und Brandenburg 70 Prozent der Unternehmen keinem Tarifverband an. Von den insgesamt 1,5 Millionen Beschäftigten an Spree und Havel haben vermutlich Hunderttausende keinen tarifvertraglichen Schutz. Hannes Koch