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"Situation untragbar"

■ Interview mit der Grünen-Fraktionssprecherin Kerstin Müller zur Staatsbürgerrechtsreform und zu möglichen Kompromissen

Eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts zeichnet sich ab. Nach Forderungen von jungen CDU- Bundestagsabgeordneten hat die Union hierfür nun eine Kommission ins Leben gerufen. Auch die FDP und Teile der CDU planen eine Gesetzesinitiative, um die automatische Einbürgerung von in Deutschland geborenen Ausländern durchzusetzen. Die SPD würde mitmachen. Die Grünen sind sogar um den Preis einverstanden, daß sich die Kinder bis zum 21. Lebensjahr für nur eine Staatsangehörigkeit entscheiden müssen.

taz: Ihr einwanderungspolitischer Sprecher Cem Özdemir hat die Idee der doppelten Staatsbürgerschaft fallengelassen. Verabschieden sich die Grünen damit nicht von einer ihrer zentralen Forderungen?

Kerstin Müller: Der Vorschlag, auf die doppelte Staatsangehörigkeit zu verzichten, ist die persönliche Meinung von Cem Özdemir. Ich selbst halte das für falsch. Und ich glaube, die Mehrheit der Grünen auch. Hinter dem Gedanken, daß es nur eine Staatsbürgerschaft geben soll, steckt das diffuse Bild von einer deutschen Identität. Das ist anachronistisch. Für viele Menschen gehören beide Kulturen zu ihrem Leben dazu. Und das anzuerkennen bedeutet, die doppelte Staatsbürgerschaft zu akzeptieren. Die jetzige Situation ist so untragbar.

Das Bielefelder Institut für Sozialforschung fand heraus, daß sich bis 70 Prozent der in Deutschland lebenden türkischen Jugendlichen dem Islam zuwenden.

Sie klinken sich aus, sie fühlen sich nicht als Teil der Gesellschaft, in der sie leben. Das kann Konflikte schüren.

Hat Cem Özdemir insofern nicht ein bedenkliches Signal ausgesandt? Immerhin ist er Ihr einwanderungspolitischer Sprecher.

Cem ist halt bemüht, und das verstehe ich auch, daß es zu Reformen kommt. Er hofft dadurch, die CDU-Front aufzubrechen. Wir haben ja schon mal eingelenkt, als es darum ging, nach wie vielen Jahren hier lebende Ausländer einen Einbürgerungsanspruch erhalten sollen. Wir sind für fünf Jahre, sind dann aber in unserem Gesetzentwurf auf acht Jahre eingeschwenkt, wie es auch die FDP fordert.

Das hat ja bisher nichts genutzt. Ist es daher nicht um so wichtiger, die Fahne für diejenigen hochzuhalten, für die sich sonst keiner einsetzt? Für die also, die auf eine doppelte Staatsbürgerschaft aus guten Gründen nicht verzichten wollen, etwa weil sie sonst auf Erbschaftsansprüche verzichten müßten?

Ich glaube nicht, daß das Gelingen der Reform an uns liegen wird. Insofern ist es wichtig, daß wir bei den Migranten als glaubwürdige Kraft dastehen. Das sollten wir nicht deshalb verspielen, nur weil CDU und FDP zaudern.

Wenn man sich auf eine halbe Reform einigt, besteht dann nicht die Gefahr, daß auf lange Zeit danach nichts mehr in Sachen Integration von Ausländern geht?

Wenn man sich auf so etwas einigt, dann kann man die doppelte Staatsbürgerschaft vergessen.

Wie werden die Grünen jetzt also in der Frage der Staatsangehörigkeit weiter verfahren?

Wir werden uns nach Ostern zusammensetzen und diskutieren. Interview: Markus Franz

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