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Rund 15 Millarden Mark schulden Rußlands Regierung und Betriebe dem Volk an ausstehenden Löhnen. Ihren Opfern reicht es. Heute wird landesweit gestreikt und demonstriert. Der Kreml hält Truppen in Bereitschaft Aus Moskau Barbara Kerneck

Gib uns unsere Millionen, Boris!

Heute ist er da, der Tag X für die Russische Föderation. Heute will eine große Koalition von Gewerkschaften und politischen Bewegungen die zweite Etappe eines landesweiten Protestes gegen die Armut einläuten, vor allem gegen die monatelange Verzögerung von Lohn- und Rentenzahlungen. An der Spitze dieser Bewegung steht die Föderation Unabhängiger Gewerkschaften Rußlands (FNPR). Die erste derartige Aktion fand im November 1996 statt. Inzwischen ist die Situation wesentlich explosiver geworden. Und die russischen Arbeitnehmer sind nach dem langen Winter grantiger als vorher.

Gestiegen sind seit Herbst auch die Schulden der Regierung und der Arbeitgeber gegenüber den Werktätigen. Während es damals 46 Billionen Rubel waren, die die russischen Lohn- und GehaltsempfängerInnen nicht erreichten, waren es Anfang März schon 51 Billionen (das entspricht rund 15 Millarden Mark, 1 Mark kostet gegenwärtig rund 3.400 Rubel). Rund 400.000 Rubel, also knapp 120 Mark, beträgt das monatliche Durchschnittsgehalt. 10 Billionen der Gesamtsumme schuldet die Regierung direkt ihren Angestellten, vor allem Lehrern und Wissenschaftlern. Aber auch die Hälfte der übrigen „Arbeitgeberschulden“ geht indirekt auf ihr Konto. Dabei handelt es sich um versprochene, aber ausgebliebene Beihilfen für Betriebe. Die russischen Unternehmen ihrerseits schulden der Regierung und dem Pensionsfonds bereits 130 Billionen Rubel.

Außer der FNPR beteiligen sich am heutigen Warnstreik auch einige „kleinere“ Verbände, so die drei Millionen Mitglieder zählende Eisenbahner- und Transportarbeitergewerkschaft. Gerechnet wird mit 7 Millionen Streikenden. Auch Schulen, Universitäten und wissenschaftliche Institute sind dabei. Nicht streiken wollen dagegen die zwei Millionen Mitglieder der Metallarbeiter-Gewerkschaft. In dieser Branche stehen so viele Betriebe still, daß ein Streik der Metaller gar nicht auffiele. Die Metaller gehören aber zu den 20 Millionen Menschen in Rußland, die heute bei Aktionen wie Mahnwachen oder Meetings in über 300 Städten und Dörfern erwartet werden. Nicht mehr ausgeschlossen werden kann Protest seitens der Offiziere, von denen viele mit ihren Familien in provisorischen Unterkünften hausen.

Am Dienstag meldete die Tageszeitung Nesawisimaja Gaseta, die aus Tschetschenien abgezogene und heute im südrussischen Stawropol stationierte 21. Fallschirmjägerbrigade habe der Regierung mit Befehlsverweigerung gedroht, wenn diese nicht unverzüglich den geschuldeten Sold auszahle. Im Stab der Luftlandetruppen wies man darauf hin, daß doch die Offiziere bereits für Januar bezahlt seien. Vorsichtshalber hat der Kreml für heute alle Truppen und Anti-Terror-Kommandos des Innenministeriums mobilisiert – insgesamt 250.000 Mann. Sie werden besser bezahlt als die reguläre Armee. Die Nesawisimaja Gaseta meint dazu: „Die Situation in unserem Lande macht eine Wiederholung der albanischen Ereignisse durchaus wahrscheinlich.“

Als „unmoralisch“ bezeichneten die Führer der FNPR dagegen am Dienstag die Tatsache, daß viele Fernsehsender Berichte über das vorbereitende Training der Soldaten des Innenministeriums sendeten. „Die Panikmache der Medien und das Gerede vom ,albanischen Drehbuch‘ sollen nur dazu dienen, unsere Aktion zu schwächen“, meinte der Gewerkschaftsvorsitzende Michail Schmakow. Doch die Gewerkschaftsführung wirkt nicht gerade wie die Ruhe selbst. Zu den Geistern, die sie rief und vielleicht nicht wieder loswerren könnte, gehören auch Gruppen, die maßgeblich an den Schießereien um das Weiße Haus und den Fernsehsender Ostankino im Oktober 1993 beteiligt waren. General Albert Makaschow, einer der im Zusammenhang mit dem Oktober 1993 Amnestierten, drohte am Wochenende, er werde heute mit dem Sturz des „volksfeindlichen Regimes“ beginnen.

Präsident Jelzin selbst hat die Forderungen der Werktätigen unterstützt. Gestern griff er seinen Regierungschef Tschernomyrdin noch einmal scharf wegen der sozialen Spannungen im Land an. Indem Jelzin letzte Woche bis auf Tschernomyrdin die wichtigsten Minister in den Ruhestand schickte, ist er einer der Hauptforderungen der Gewerkschaften zuvorgekommen. Die neue Regierungsmannschaft reagierte angesichts der drohenden sozialen Unruhen mit Beruhigungsgesten. Besonders erfolgreich war dabei der frischgebackene Vizepremier Anatoli Tschubais am 21. März in Kemerowo auf dem allrussischen Kongreß der Arbeiter der Kohleindustrie. Er versprach ihnen 48 Billionen Rubel staatliche Förderung. Seit Monatsanfang wurden aber auch 5 Billionen an Löhnen und Gehältern nachgezahlt. Gestern versprach Tschubais weitere Auszahlungen. Auf einen Zeitrahmen wollte er sich dabei aber nicht festlegen. Nicht gerade Öl auf die Wogen der Empörung.

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